Das Jahr der Woelfe
Fuhrwerk bog von der Straße ab und rumpelte auf einen zerstampften Acker. Wagen neben Wagen standen hier, lange und lange Reihen. Ein Feldjäger trat hinzu. »Sie können den Wagen unbesorgt hier stehen lassen. Wir achten auf alles.«
»Wo sollen wir hingehen?«, fragte Vater.
»Gehen Sie in die Baracken dort. Wir haben gut geheizt.« Er half Mutter vom Fuhrwerk.
Vater schirrte Lotter aus, warf ihm eine Decke über und band ihn an den Balken vor der Baracke zu den anderen Pferden. Sie öffneten die Tür. Eine Welle heißer rauchiger Luft schlug ihnen entgegen. Mutter wurde es schlecht. Sie presste ihr Taschentuch gegen den Mund. Ein Kanonenofen stand mitten im Raum. Er glühte.
»Hier ist noch ein Plätzchen, Frau«, rief ein alter Stoppelbart. Er rückte ein wenig zur Seite. Vater legte die schmal gefaltete Decke auf den Boden. Die Kinder setzten sich darauf.
»Ihr könnt dort drüben eine heiße Suppe holen«, riet der alte Mann.
»Konrad wird gehen«, ordnete der Vater an.
»Lass mich doch gehen, Vater, ich weiß, wo die Suppe ausgeteilt wird«, sagte Albert.
»Konrad geht.«
»Wir sind doch an der Schule vorbeigekommen, Vater«, wagte Albert einzuwenden.
»Er hat Recht«, bestätigte der Alte. »In der Schule gibt es das Essen.«
»Lass ihn gehen, Johannes, er wird sich schon zurechtfinden.«
»Also dann«, gab Vater nach.
Albert verschwand mit dem kleinen Eimer hinter den ersten Häusern des Dorfes.
Vater mischte Kleie und Hafer mit Wasser für das Pferd. Er drängte sich durch die Leute und stellte das Futter einen Augenblick auf die Ofenplatte, damit die Eiseskälte wich. Dann trat er zu seinem Pferd. »Bist ein braves Tier, Lotter«, lobte er es. »Hast uns sicher hierher gebracht. Mit dir werden wir es schaffen.«
Lotter hob das Maul aus dem Eimer und schnaubte, dass die Spreu flog. Vater tätschelte den braunen Hals des Pferdes und wartete, bis Lotter das letzte Korn gefressen hatte. Er schaute zum Ort hinüber. Eine schwarz gekleidete Frau kam heran. Sie trug einen Suppentopf. »Ist mein kleiner Junge noch nicht bald an der Reihe? Er ist blond und acht Jahre alt.«
»Hatte er einen blauen Eimer in der Hand?«
»Ja, unseren kleinen Kartoffeleimer.«
»Er stand kurz hinter mir in der Schlange. Gleich muss er hier sein.«
Konrads Hände schmerzten. In den Fingerspitzen pochte das Blut. Seit Tagen spürte er die erste Feuerwärme.
»Hoffentlich kommt Albert bald. Ich habe Hunger«, sagte Hedwig. Aber Albert blieb aus. Viel zu lange, schien es Mutter.
»Vielleicht hat die Frau ein anderes Kind gemeint. Ich sehe einmal nach.«
Vater schlüpfte in die Joppe. Die Tür schlug hinter ihm zu. Drei- oder viermal öffnete sie sich wieder. Statt Vater traten neue Flüchtlinge herein. Konrad wurde ängstlich und sah zur Mutter hinüber. Er bemerkte ihre Unruhe.
»Soll ich einmal nachsehen, Mutter?«, bettelte er.
»Wart noch, Junge.«
Nach einer Weile jedoch winkte sie ihm, dass er gehen solle. Bevor er aber die Jacke übergezogen hatte, riss Vater die Tür auf und trat zur Mutter.
»Vor einer halben Stunde schon ist er aus der Schule weggegangen. Ich habe ihn nicht mehr gefunden. Wir müssen ihn suchen.«
»Der kleine blonde Junge ist weg?«
»Warum schickt ihr so einen kleinen Jungen?«
»So viele Kinder sind verloren gegangen!«
Alle redeten plötzlich durcheinander. Eine hagere Frau erbot sich auf Franz zu achten.
»Ich suche mit«, entschloss sich der stoppelbärtige Alte.
»Er kann nicht weit gekommen sein«, sagte Vater. »Wir gehen vom Marktplatz aus einzeln durch die Straßen des Ortes und fragen jeden, der uns begegnet. In einer Stunde, wenn die Kirchenuhr vier zeigt, kommen alle wieder auf den Platz zurück.«
Sie hasteten in den Ort. Vater wies Hedwig ein paar kurze schmale Straßen an. Konrad sollte in Richtung des Haffs suchen. Vater und Mutter nahmen sich den größten Teil des Ortes vor. Der Alte sagte, er wolle zwischen den Wagen und bei den Soldaten nach dem Kind forschen.
Noch einmal blickte Konrad sich um. Dann war er allein zwischen den Häusern. Ein Mädchen kam ihm entgegen. »Hast du meinen Bruder nicht gesehen? Er ist blond und trägt einen kleinen blauen Eimer in der Hand.«
Das Mädchen blickte ihn scheu an, zuckte die Schultern und huschte vorbei. Er lief weiter.
»Haben Sie meinen Bruder nicht gesehen?«, fragte er einen Mann in brauner Uniform.
»Das heißt hier Heil Hitler«, tadelte der Mann und blickte missbilligend. Konrad schwieg.
»Na, wie sah er
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