Das Jahr der Woelfe
ist der Gaul vom nachfolgenden Fuhrwerk ganz und gar scheu geworden. Den Rest habt ihr ja gesehen.«
Der Treck hielt sich stets in Sichtweite der Nehrung, einmal fuhren sie dicht unter dem Ufer und hörten die dürren Schilffelder wispern. Die Kinder hockten müde im Wagen. Die Furcht vor Tieffliegern und Eisbrüchen hielt sie wach. Nur Franz schlief fest. Er atmete ruhig und ließ die Hand seines Vaters nicht los. Konrad wechselte mit Hedwig von Zeit zu Zeit den Platz auf dem Bock. Er lauschte ständig und hätte auch das leiseste Fliegengesumm sofort gehört. Aber es blieb still. Albert lag zusammengerollt im Wagen unter dem Kutschbock. Er schwieg und starrte vor sich hin.
»Wieder Leibschmerzen, Albert?«, fragte die Mutter.
»Ja, Mutter, arge Leibschmerzen.«
»Immer, wenn die Angst zu groß wird, schlägt sie ihm auf den Leib«, sagte Vater.
Mutter nestelte in einem Beutel und schüttete aus einem Röhrchen kleine gelbgrüne Körner in die Hand. »Da, zerkaue sie aber gut«, riet sie und reichte sie dem Jungen.
»Was gibst du ihm?«, fragte der Vater.
»Kümmelkörner. Der Tee hilft. Aber für Tee brauchen wir kochendes Wasser.«
»Wann werden wir endlich etwas Heißes zu essen bekommen?,« rief Konrad in den Wagen.
»Freuen wir uns lieber, dass wir überhaupt etwas haben und bisher satt geworden sind«, tröstete Vater.
Es blieb lange hell an diesem Tag. Die Sonne zog vor ihnen her und versank wie eine matte, rote Scheibe im Dunst. Die Nacht brach schnell herein. Der Zug stockte. Es sprach sich herum, dass in der Nacht niemand weiterfahren durfte. Das wäre wegen der Risse zu gefährlich.
Konrad fütterte Lotter und warf ihm eine Decke über den Rücken. Wasser lief über das Eis.
»Die Eisfläche beult sich unter der Last«, sagte Vater.
Sie krochen dicht zusammen. Mutter hatte das Bettenbündel aufgeschnürt. Aber selbst unter dem Federberg froren sie.
19
Konrad erwachte und hatte das Gefühl, es müsste bald Morgen sein. Die Zeltplane schlug gegen das Holz. Er stand leise auf, um sie festzubinden. Sturm pfiff ihm ins Gesicht und trieb dicke Schneeflocken und Regen mit sich. Eine weiße Schneewolke, die so dicht war, dass er nicht einmal Lotters Ohren sehen konnte, hüllte alles ein.
»Warum bist du aufgestanden?«, flüsterte Vater.
»Die Plane schlug im Wind.«
»Schneesturm.«
»Schlimm, Vater?«
»Jedenfalls werden die Tiefflieger nicht kommen.«
»Das ist gut, Vater. Hör, wie das Kind schreit.«
»Ja, Junge, es jammert schon seit Stunden.«
»Wie geht es dir, Vater?«
»Besser, Junge. Das Fieber ist weg. Ich fühle mich frischer als gestern.«
»Gott sei Dank«, sagte Konrad.
Alles war weiß überzogen, Plane, Wagen, Bock und Pferd. Nur das Eiswasser blinkte schwarz herauf. Es war gestiegen und reichte Lotter bis über die Knöchel.
Konrad zog seine Uhr hervor. Er hielt sie dicht vor die Augen, aber genau konnte er nicht erkennen, wie spät es war.
»Ich glaube, es geht auf fünf Uhr zu, Vater.«
»Mag sein, Junge. Heute wird es vor acht Uhr nicht hell. Leg dich noch einmal hin und schlaf.«
Konrad kroch wieder in den Federberg. Vater zurrte die Plane fest. Der Sturm heulte lauter und verschlang selbst das Kinderschreien. Nur zuweilen drang es noch herüber, leiser.
Während Konrad bald wieder eingeschlafen war, blieb Vater mit offenen Augen liegen und dachte an die kommenden Tage. Würde die Flucht gelingen? Oder standen die Russen am Fuß der Nehrung schon bereit, um sie zu empfangen? Schloss sich der Kessel in Danzig oder in Gdingen? Konnte die wankende deutsche Front die russischen Armeen noch einmal zum Stehen bringen? Oder wenigstens ihren schnellen Vormarsch verlangsamen?
Berlin, dachte Vater. In Berlin wohnt Georg, mein Bruder. Aber wie weit ist Berlin? Viele Wochen mit dem Gespann. Und unser Kind. Bald wird unser Kind geboren in Schnee und Eis, auf der Flucht.
Wie eine schwarze Wand wuchsen die Sorgen vor ihm auf. Schließlich nahm er sich vor, nur an diesen Tag zu denken, der grau und stürmisch heranbrauste. Ob sie das Eis wohl heute schon verlassen konnten? Er schaltete die kleine Taschenlampe an und zog die Kette aus der Seitentasche. Wenn der Sturm anhält, kommen wir nur langsam vorwärts, dachte er. Das heißt, dass wir noch eine Nacht auf dem Eis liegen. Er löschte das Licht und legte sich zurück. Es fiel ihm ein, wie schön es hier vor wenigen Jahren gewesen war. »Wie viele Jahre sind es eigentlich?« Er begann zu zählen. »Kaum zehn. Ich war mit
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