Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung - Roman
Franz erschwinglich. Zunehmend führten Angehörige der Schickeria ihr Kokain in teuren Behältern wie etwa silbernen, oft auch mit Diamanten verzierten Röhrchen mit sich, um auf Partys, beim Brainstorming oder in den Clubs zu zeigen, dass man voll im Trend sei. In Discos gehöre es mittlerweile zum guten Ton, auf den Klodeckeln Linien zu legen.
Zu diesem Zeitpunkt noch relativ nüchtern, hatte ich, von Manuels Rhetorik fasziniert, jedes seiner Worte in mich eindringen lassen wie die überzeugende Botschaft eines Predigers. Der Koks-Vertreter war sich seiner Sache absolut sicher gewesen. Angenehme, einlullende Stimme, gepflegte Manieren – und diese Stimme hatte im kleinen Kreis am runden Tisch von so viel Geld gesprochen, dass die Augen der Zuhörer feucht geworden waren.
Berti Drossel, von Geburt an misstrauisch, hatte seine Skepsis nicht verborgen. Abgesehen davon, dass er andere Geschäfte machte, schwang in seinen Ansichten stets ein Hintergrundton, der mir altmodisch oder, besser gesagt, reaktionär vorkam. Er war eigentlich ein Fossil, nicht mehr zeitgemäß – und würde, da war ich mir sicher, schon bald von einem Jüngeren weggebissen werden. Er hatte sich selbstverständlich geweigert, vom Koks zu naschen. Sein Rauschgift war der Alkohol – und früher mal, wie er gestanden hatte, in den 50er und 60er Jahren, Aufputschmittel wie Preludin und Captagon, was damals alle auf dem Kiez genommen hätten. Der Kolumbianer dagegen: unersättlich, mindestens vier, fünf Linien. Leo, der natürlich die Trends in New Yorker Discos kannte, hatte sich mit dem geliehenen Zehner im Nasenloch ebenfalls mehrmals über das weiße Pulver gebeugt und es erstaunlich sachkundig eingesaugt. Da ich mich auch enthalten hatte, war ich von Berti mit einem anerkennenden Klaps bedacht worden. Er hatte sogar für Sekunden den Arm um mich gelegt.
Nach meiner Ansicht passten Drogen exakt in mein düsteres Bild von der Welt. Elvis Presley und Fred Fink gestorben, der Kalte Krieg, Atomkraftwerke, Terrorismus, Heroinschwemme, primitiver Punk-Rock, bescheuerte Disco-Musik, Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung, Terror der Roten Khmer in Kambodscha, Unterdrückung in Chile, Südafrika, Uganda und zahllosen anderen Ländern, Bürgerkrieg im Libanon, dazu die vielen Kleinigkeiten wie Bierpreiserhöhung, Fernseh-Programme für Unbedarfte, kurzsichtige Politiker, Panzerglas in jeder Bank, Scheißwetter. Das Gesamtbild glich einer Heartfield-Collage, jedoch ohne satirisches Element – und eigentlich wäre das Leben unter solchen Aspekten ein permanenter Alptraum, wenn es da nicht doch ein paar positive, das Herz erfreuende Einsprengsel gäbe: geile Autos, geile Rock-Musik, Jack Daniel’s, die Kombination von geiler Rock-Musik und Jack Daniel’s in einem geilen Auto auf einer geilen Autobahn, egal, ob bei geilem oder beschissenem Wetter. Mein Verhältnis zu Autos hatte sich seit meiner Kindheit nicht wesentlich verändert, ich war ja nie über die infantile Faszination hinausgekommen, den rationalen Blick auf Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor hatte ich niemals angestrebt, denn die Vorstellung von der Reduzierung des Autos auf reine Zweckmäßigkeit war mir immer verhasst gewesen. Quietsche-Ente, Puff-Puff-Eisenbahn aus Holz, die Ritterburg, der Cowboyhut nebst Bakelit-Revolver, Fahrrad mit 3-Gang-Schaltung, Moped, dann die echten Autos, meistens aufgebrochen, kurzgeschlossen und geklaut. Nicht das Klauen hatte mir den Kick verschafft, sondern das Fahren. Sobald ich hinterm Lenkrad saß, erstrahlte augenblicklich in mir – bunt und eine wunderbare Zeit versprechend – die Illusion von Freiheit, Grenzenlosigkeit und Stärke, all die Jahre unvermindert, trotz gegensätzlicher Lebenserfahrung. Na ja, dachte ich, die Mädchen spielen mit Puppen, und wenn sie eines Tages Kinder kriegen, sind ihre Puppen aus Fleisch und Blut, optimale Zuwendungsobjekte, und die zu Frauen gewordenen Mädchen werden durch die von ihnen geborenen Puppen aus Fleisch und Blut erwachsen. Nicht alle, klar, aber das ist die Regel, das haben sie den Jungs voraus. Wenn Typen wie ich die Spielzeugrevolver gegen echte Knarren tauschen und Autos knacken, um echte Autofahrer zu werden, liegt das womöglich an einer vollkommen unterschiedlichen Weltsicht. Schon das Spiel mit Puppen bedeutet Schützen, Pflegen, Kümmern. Wir Jungs hatten kein Problem damit, im Laufe eines Nachmittags mit unseren imaginären Maschinengewehren ein ganzes Bataillon von Drecksäcken umzunieten. In
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