Das Jahr, in dem ich 13 1/2 war - Roman
mich so wohl neben ihr. Ich umarme sie.
»Bist du enttäuscht von mir?«, frage ich vorsichtig.
»Ja, ich bin enttäuscht, dass du das nicht schaffst. Aber ich will dich nicht zwingen, mich nicht zu enttäuschen. Verstehst du?«
Ich bin schon wieder wütend. Wieso ist sie enttäuscht? Und was meint sie mit dem zweiten Satz?
»Nein, verstehe ich nicht«, presse ich hervor. Meinen Arm lasse ich zwar auf ihr liegen, aber ich bin vorsichtig.
Sie kümmert sich nicht um meine Wut, sondern rückt noch ein Stück näher ran und sagt: »Wir haben auch mit Carstens Eltern darüber gesprochen.«
Was sind Eltern bloß für Plaudertaschen. Müssen sie mit allen dein Innenleben auseinandernehmen? Ich schäme mich.
»Mich beeindruckt seine Mutter sehr«, redet meine Mutter weiter. »Sie hat gesagt, dass die Kinder nicht dazu da sind, die Erwartungen der Eltern zu erfüllen, sondern ihren eigenen Weg zu finden. Und das kann heißen, dass ich von meinen Kindern auch mal enttäuscht werde. Aber ich kann irgendwie vertrauen, dass das, was die Kinder machen, trotzdem richtig ist. Ich glaube, es kommt vor allem auf das Vertrauen an. Und Carstens Mutter ist Weltmeisterin im Vertrauen. Sie vertraut dir. Und mir. Das macht mir irgendwie viel Mut. Verstehst du das?«
Ich kann sie zwar immer noch nicht verstehen, aber ich habe sie so lieb. Und dann will ich einschlafen, und weil ich nichts mehr sage, rollt sie sich unter meinem Arm vor, küsst mich auf meine Wange und krabbelt die Leiter wieder runter.
Ich mache das Licht aus und denke an meine alte Schule und merke, dass ich noch was davon spüre, wie gern ich mal zur Schule gegangen bin. Vielleicht wird ja alles wieder gut? He, lieber Gott, kann das sein? Ach Quatsch! Ich bin schon ganz durcheinander.
13
Am Samstagnachmittag treffe ich mich mit Manu im Park. Ich habe ihr erzählt, wie schön es ist, in der Dämmerung zu uns nach Hause zu laufen. Zuerst sehen wir den Enten zu, die in den letzten Wasserlöchern herumpaddeln. Neben uns quietschen Kinder. Sie füttern die ohnehin fetten Vögel immer noch weiter. Uninteressiert schwimmen die Enten ihre Kreise. Am Rodelhügel toben die letzten Unverdrossenen. Als es dunkler wird, fliegen Massen von Krähen aus Osten über die Stadt und suchen ihre Schlafbäume auf. Die meisten Menschen gehen heim. Überall leuchtet warmes Licht aus den Wohnungen. Ich mag es, wenn man an den Häusern vorübergeht und in die Wohnungen gucken kann. Ach, so haben die sich eingerichtet!
Ich bummle mit Manu in unsere Richtung. Wir gehen am Wasser entlang. Als ich bemerke, wie schnell es dunkel wird, lege ich einen Schritt zu. Es ist noch ziemlich weit. Wir könnten unterwegs in die Straßenbahn steigen, aber wir wollen nicht.
Manu ist irgendwie schwermütig. Sie ist sehr still. Ich versuche, sie zum Lachen zu bringen. Es gelingt mir nicht. Was ist bloß los? Ich zeige ihr die Krähen, ich mache das Gekrächze nach. Das hat mir Carsten bei gebracht. Sie verzieht keine Miene.
»Was hast du?«, frage ich sie endlich.
»Nichts.«
»Hat es was mit der Schule zu tun?« Die geht ja schließlich in genau zwei Nächten los. Ich zähle lieber die Nächte, das ist eindeutiger.
»Nein.«
Kann sie denn nicht mehr als immer nur ein Wort sagen? Das kann ja heiter werden. Ich dachte, wir liegen nachts im Hochbett und quatschen. Sieht aber eher nach einem schweigsamen Abend aus.
Auf der Brücke bleibt sie stehen und kramt in ihrer bunten Tasche. Sie holt ein Päckchen Kippen raus und bietet mir eine an. Ich lehne ab, ist ja klar. Ich meine, manchmal hätte ich schon Lust, mal heimlich zu rauchen, aber ich habe – ganz großes Ehrenwort – das noch nie gemacht. Heute Abend ist mir allerdings überhaupt nicht danach. Manu steckt sich eine an. Sie beugt sich über die Brüstung und starrt ins schwarze Wasser. Hier ist der Fluss nie zugefroren. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern. Von den verschilften Rändern aus wächst allerdings schon Eis auf die Mitte des Flusses zu. Manche Vögel sitzen auf dem Eis wie Zuschauer.
»Ob sie an den Füßen frieren?«, fragt sie mich.
Woher soll ich das wissen? Ich habe jedenfalls kalte Füße und kann es nicht fassen, dass sie sich hier über den kalten Stein beugt und in die Landschaft blickt.
»Was ist los? Komm, sag es mir!«, begehre ich auf. »Du bist so komisch.«
»Ich bin allein und habe Angst«, sagt sie.
Das verschlägt mir die Sprache.
»Du bist allein? Aber ich bin doch da.«
»Ja, aber du bist so total
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