Das Jahr, in dem ich 13 1/2 war - Roman
noch ein Stückchen Apfel geben.«
Als Manu mit Essen anfangen will, macht Carsten wie immer eine theatralische Pause. Er blickt uns alle einzeln an und sagt dann feierlich: »Gesegnete Mahlzeit.« Dann kann es losgehen.
Maria lacht. Manu guckt erst Maria an, dann mich. Wahrscheinlich wundert sie sich über diesen Spruch. Kann ich verstehen. Ich werde ihr nachher erklären, welcher besonderen Art Mensch Carsten angehört. Aber wenn ich ehrlich bin, irgendwie gefällt mir das mit dem Segen. Dadurch wird das Essen zu was Besonderem.
Carsten macht sonst wenige Sachen mit so viel Ernst. Eigentlich ist er ein ziemlich fröhlicher Typ. Er kann unheimlich lustige Fratzen machen und dann lacht Maria sich schief. Ich muss auch grinsen. Vor allem aber hilft er mir oft, meine Mutter zu verstehen. Ich sehe ihn dann an und manchmal macht er mir ein Zeichen. So ein heimliches Schulterzucken bedeutet: Da ist nichts zu machen. Drei Falten auf der Stirn heißen: Vorsicht! Sie ist geladen. Gespitzte Lippen: Heute tut sie wichtig, aber nimm es nicht so schwer. Natürlich gefällt mir auch, wie er sich um Mella und mich kümmert. Ich bin zwar manchmal grün vor Neid, weil ich denke, er liebt Maria natürlich mehr als mich, aber eigentlich habe ich keinen echten Grund dazu. Allerdings kuschelt er zu viel mit meiner Mutter. Deshalb kuschelt sie nämlich weniger mit mir. Und ich habe schon Kuschelmangelerscheinungen. Ich wollte das mal mit Mella bereden, da hat sie mir nur den Vogel gezeigt und mich eine blöde Kuh genannt. »Gönn das doch unserer Mutter. Siehst du nicht, wie gut ihr das tut?«, hat sie mich angefahren. Wie ist sie klug, meine Schwester! Und so gelassen! Als wäre sie nie eifersüchtig. Aber sie hat natürlich recht, und trotzdem. Ich bin auch noch da.
Jedenfalls ist Carsten ein Glückstreffer. Mami hat eine gute Wahl getroffen. Auch wenn er manchmal nervt. Zum Beispiel, wenn er sich zu sehr in meine Dinge einmischt oder wenn er meine Mutter beeinflusst oder wenn er mit seinen komischen Sachen ankommt und uns überzeugen will, oder wenn er schlecht gelaunt rumsitzt, weil die Geschäfte mies laufen. Was können wir dafür? Allerdings kann ich nicht behaupten, er wäre sehr launisch. Da macht Mella bedeutend mehr Stimmung. Und bei mir geht das ja vielleicht auch langsam los. Ich will aber nicht! Ich will nicht in die Pubertät! Da höre ich Mella schon wieder kichern: Du bist doch längst mittendrin!
Am meisten Veränderungen hat Carsten durch Maria und seine ganzen komischen Themen in unsere Familie gebracht. Und bei dem Segen vor dem Essen kriegen wir das auch jeden Tag mit. Da ist er zäh und unbeirrbar und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, auch wenn Mella gelangweilt die Augen zur Decke dreht, wenn er sie ansehen will.
Aber zum Glück erspart er uns ein richtiges Gebet wie bei seinen Eltern. Da musste ich mir das Lachen verkneifen. Wenn normale Erwachsene plötzlich die Hände falten, ernst gucken, und dann spricht einer ein Gebet und alle geben sich die Hände und dann kann es erst losgehen. Nach zwei Tagen hatte ich mich aber auch daran gewöhnt und bei Omi ist es nicht ganz so komisch. So wie sie sonst drauf ist, stimmt das alles. Ich meine, ihr Vertrauen und wie wir plötzlich als Riesenfamilie da willkommen sind und in ihrem Leben eine Rolle spielen. Bei ihr ist das irgendwie ganz echt. Das merke ich daran, dass sie uns anruft, wenn wir nach der Heimreise eigentlich zu Hause sein müssten. Sie erkundigt sich dann, ob wir gesund gelandet sind, als wären wir geflogen. Und es geht ihr nicht nur um Maria und Carsten. Es geht ihr um uns alle. Sie hat auch damals Anfang Januar angerufen und gefragt, ob Mella wohlbehalten wieder zurück ist. Und als meine Mutter ja sagte, hat sie was gesagt, was meine Mutter zum Lächeln brachte. Ich hab es genau gesehen. Ich glaube, dass Omi ein besonders großes Herz hat. Es scheint geweitet zu sein, so wie ein Unterhemd allmählich immer weiter wird, wenn man es oft anzieht. Ihr Herz ist geweitet, aber nicht schlapp, sondern stark. Wir haben darin einen gemütlichen Platz, und wer weiß, wozu das noch gut ist.
Das könnte jetzt Mella sagen. Als ich an sie denke, überkommt mich eine große Sehnsucht nach meiner Schwester. Sie ist noch nicht lange weg. Gerade mal seit Donnerstag. Aber als sie die paar wenigen Tage nicht an unserem Tisch sitzt, ahne ich, was auf mich zukommt, wenn sie mal ganz ausgezogen ist. Und das kann ja schon bald sein. Ich weiß noch genau, dass meine
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