Das Jahr, in dem ich 13 1/2 war - Roman
sie sich im Auto nach seinem Mund streckt. Ich fühle mit ihr, wenn sie irgendwo auf ihn wartet, und er kommt nicht, oder wenn sie ihn mit seiner Familie im Supermarkt trifft. Mir wird kalt bei dem Hass, den sie zum Ausdruck bringt, wenn sie von seiner Frau spricht und behauptet, das wären seine Worte. Oh, verdammter Mist. Ich sehe sie in einem Karussell sitzen, das sie zwischen all den Lügen herumwirbelt. Wie kann ich ihr helfen? Das soll ein Ende haben! Meine Sätze haben alle hundert Ausrufezeichen, wenn ich sie denke. Aber mir fällt keine Lösung ein. Ich muss es jemand erzählen! Wieder hundert Ausrufezeichen. Aber wem? Ich kann mir Manus Reaktion vorstellen, wenn ich ihr das vorschlagen würde. Sie würde ausrasten. Sie würde toben. Vielleicht würde sie sich wirklich was antun?
Nach dem Frühstück fährt Manu mit der Straßenbahn nach Hause. Ich bringe sie zur Haltestelle. Mir ist ganz blöde zumute. Ich kriege die Gefühle von gestern Abend nicht aus meinem Kopf. Ich sehe Manu immer wieder von der Seite an. Sie ist fröhlich.
»Es war schön bei euch. Danke, Tine. Darf ich mal wiederkommen?«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Vorgestern hätte ich laut »ja!« geschrien. Jetzt nicke ich nur und stecke irgendwie mit meinen Gefühlen fest. »Klar, du kannst gern wiederkommen«, schiebe ich nach. Ich will sie zur Freundin, aber ich kann das mit Graf nicht ab. Und das kann ich ihr nicht sagen. Zum Glück kommt die Straßenbahn. Manu steigt ein.
»Wir sehen uns!«, rufe ich ihr zu. »Morgen schon. Bis dann!«
Sie winkt und lächelt. Hat sie was gemerkt? Hat sie mitgekriegt, dass ich nicht weiß, wie ich mich benehmen soll? Ich bin traurig und hin- und hergerissen. Was sie mir gestern Abend im Bett erzählt hat, war wie ein schlechter Film, den ich nicht anhalten konnte.
Als ich nach Hause komme, bleibt das Gefühl. Es liegt eine seltsame Traurigkeit über dem Tag. Ich laufe rum wie Falschgeld. Nicht einmal Marias Gebrabbel kann mich fröhlich stimmen. Sie streckt ihre Ärmchen aus und ich nehme sie hoch. Sie schmiegt sich an mich und streichelt mich. Ich werde ganz weich und trotzdem bleibe ich benommen.
»Kannst du auf sie aufpassen, bis wir wieder da sind?«, hatte mich meine Mutter gefragt und war dann mit Cars ten spazieren gegangen. Der Tag vergeht und ich muss an ein Lied von Element of Crime denken: »Michaela mag Sonntage nicht leiden, denn da schwimmen alle Leute so wie Quallen durch den Tag.« Ich bin auch eine Qualle.
15
Mella ist wieder da. Sie hat einen großen Pickel auf dem Kinn und sieht ziemlich zerknautscht aus. Ihre Augen sind klein und ihr Gesicht ist irgendwie verquollen.
»Du siehst aus wie eine Wasserleiche«, rutscht es mir heraus.
Ich ernte einen wütenden Katzendrachenblick, der aber gleich wieder ganz sanft wird.
»Was ist los?«, nerve ich, als wir allein in unserem Zimmer sind.
»Er ist so lieb«, flüstert sie.
Meint sie jetzt Tom? Der kann unmöglich mit auf Klassenfahrt gewesen sein. Mir dämmert, dass sie Christoph meinen muss. Das ist einer der drei jungen Männer, die mit ihr in der Ausbildung sind. Irgendwann hat sie schon mal so was angedeutet. Wenn ich mich richtig erinnern kann, hat sie sogar über ihn gelästert. Oder hat sie sich in einen Prager verliebt?
»Wie heißt er?«, frage ich frech. Ich muss von vorn kommen, sonst verrät sie mir nichts. Ich kenne sie.
»Es ist Christoph, aber sag es keinem, klar?« Wieder funkelt mich der Katzendrachen an.
»Nie im Leben. Ich kann schweigen wie ein Grab. Das müsstest du wissen.« Ich blicke sie erwachsen an.
Sie lacht. Dann kommt sie zu mir und wuschelt in meinen Haaren herum. »Hast du mich auch vermisst?«
»Und wie! Ich hätte nicht gedacht, dass du mir so fehlen würdest, du Miststück!«, rufe ich.
»Na, dann stell dich schon mal auf schwere Zeiten ein, liebe Schwester! In acht Wochen werde ich achtzehn. Kannst du dir das vorstellen? Dann kann ich ausziehen!« Mein Herz gefriert.
»Bitte nicht!«, sage ich. »Kannst du nicht noch ein bisschen warten?«
»Aber klar, Tine. Ich zieh nicht gleich aus. Es sei denn, Mami schmeißt mich raus. Ich brauche doch erst mal Geld für eine Wohnung. Aber weißt du, Christoph wohnt in einer WG und hat wirklich lustige Sachen davon erzählt.«
Es geht bergauf. Mutter und Carsten kommen zurück und freuen sich, dass Mella wieder da ist. Carsten macht Abendbrot und es gibt gebratene Nudeln von gestern.
Nach dem Abendbrot lümmle ich mich in unseren alten Sessel
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