Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman
Weile schweigend nebeneinanderher. Dann tauchte ein Kirchturm hinter alten Baumkronen auf.
»Ich habe noch ein Messer. Bis wir dort sind, werde ich damit zustechen. Irgendjemand muss die Welt von Menschen wie Ihnen befreien«, sagte sie.
Ich ging schneller. Sie blieb gleichauf. Sie begann zu laufen. Ich ebenfalls. Ein Spiel. Sie besaß offensichtlich kein Messer, keine Waffe. Sie beschleunigte, aber ich blieb immer einen Schritt voraus.
Am Dorfeingang setzte sie sich atemlos auf eine Mauer, hielt sich den Bauch umklammert. Sie lachte. »Okay, sagen wir Du zueinander.«
Gegenüber der Dorfkirche befand sich ein kleiner Gasthof. Ein Taxi stand davor.
Ich ging hinein, setzte mich an den Tresen. Auch in der Gaststube war, wie im ganzen Dorf, niemand zu sehen.
»Hallo, lebt hier noch jemand?«
Ein Mann kam von hinten, zog sich die Hose über den Bauch und schnallte den Gürtel fest. Als er losließ, rutschte sie wieder herab und Bauch quoll über den Gürtel. Er stellte sich hinter den Zapfhahn, stützte sich mit beiden Händen am Tresen ab.
»Das Taxi«, sagte ich. »Ist der Fahrer hier?«
»Das Taxi gehört mir. Ich mache das nebenbei.«
»Ich würde gern nach Frankfurt gefahren werden.«
»Ich kann hier nicht weg.«
Salina kam durch die Tür, suchte nach der Toilette. »Ich gehe mal Hände waschen.«
»Es gibt niemanden, der uns fahren kann?«, fragte ich.
»Doch, meine Frau. Sie guckt fern. Eine Talkshow. Wenn die zu Ende ist, macht sie es vielleicht.«
Ich bestellte Bier und setzte mich ans Fenster. Salina kam zurück, bestellte ebenfalls Bier. Ihr Overall war an den Armen und Beinen nass, die Handschuhe steckten in den Taschen. Sie grinste mich an.
»Schon besser.«
Nach einer Weile sagte sie: »Gut, ich werde ihn fragen, ob er dich sprechen will.«
»Deinen Vater? Frederik? Du hast ihm noch nichts von mir erzählt?«
»Nein. Ich weiß auch so, was für ihn gut ist.«
»Das klingt, als hättest du ihn entmündigt. Geht es ihm nicht gut?«
»Doch.«
»Was dann?«
»Ich liebe ihn.«
Sie bekam ihr Bier, roch daran, nippte und spürte mit der Zunge auf den Lippen dem Geschmack nach, dann nahm sie einen größeren Schluck. »Ich beschütze ihn, obwohl ich seine Lebensweise nicht akzeptiere. Er ist ein Feigling wie fast alle Menschen.«
»Ein Feigling, der mit Motorrädern über Schluchten springt, sich von Hochhäusern fallen lässt, über brennende Autos ...«
»Ach, hör auf, ich sagte doch: Es waren alles Selbstmordversuche.«
»Und das ist feige?«
»Sie gelangen nie. Er rettete sich immer selbst im letzten Moment. So ist das mit den Feiglingen. Sie überschätzen die Bedeutung ihres eigenen Daseins, deshalb bleiben sie am Leben. Sie halten sich für wichtig, ohne zu wissen, warum. Dabei deutet alles auf ihre eigene Sinnlosigkeit hin, aber sie glauben bis zum letzten Moment, es könnte sich ja noch ein Sinn des Lebens offenbaren. Feiglinge eben.«
»Seltsame Definition von Feigheit.«
»Mut ist, Risiken einzugehen, den Tod in Kauf zu nehmen.«
»Mut könnte auch sein, unter allen Umständen zu überleben.«
»Pah, das ist der Mut der Spießer. Ich habe es dir eben erklärt.«
Sie sah mich an, bewegte die Lippen, als wollte sie ausspucken, dann hob sie die Oberlippe und drehte den Kopf zum Fenster.
»Da ist er wieder.« Sie deutete nach draußen.
»Wer?«
»Siehst du das Auto da?«
Ein grauer Wagen mit stumpfem Lack fuhr langsam durch das Dorf.
»Es verfolgt mich schon seit zwei Tagen. Wer auch immer da drinnen sitzt, er sucht mich.«
Ich konnte den Fahrer nicht erkennen.
»Vielleicht ist der auch auf der Suche nach dir. Jedenfalls tauchte er zum ersten Mal auf, als du in die Werkstatt kamst.«
Weiter hinten auf der Straße wendete der Wagen und kam langsam zurück. Ich stand auf, ging zur Tür, öffnete sie und beugte mich herab, um in den Wagen zu sehen. Am Steuer saß Eva Young, halb Mann, halb Frau, halb Asiatin, halb Europäerin, halb Geliebte, halb Verräterin. Sie sah mich und gab Gas.
25
Doris Day meldete sich nur mit einem schwachen »Hallo«.
»Hier ist ein verunglückter Rock Hudson, Spezialist für Migräne und schießwütige Mütter.«
Sie erkannte mich sofort, ihre Stimme gewann Kraft. »Sie sind es. Ihrer Mutter geht es besser. Sie ist zwar noch nicht in den Laden gegangen, aber sie isst und trinkt bei Tageslicht, liest Zeitung und hat es schon wieder getan.«
»Was?«
»Das.«
Es entstand eine Pause. Ich ahnte, was sie meinen könnte, tat ihr aber nicht
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