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Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Titel: Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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arbeitet, weiß besser, was er tut und was mit ihm geschieht, als eine dieser Hupfdohlen, die denken, es wäre der erste Schritt auf dem Weg nach Hollywood.« Ihre Nase kam hervor. »Hollywood« kam mit ein bisschen Spucke von ihren Lippen.
    Am Empfangstresen klingelte das Telefon. Sie glättete ihr Gesicht, rollte mit dem Geräusch einer Nähmaschine zurück und nahm das Gespräch an. »KS Production International.« Sie sprach englisch. Ich stand auf, überlegte, ob ich direkt in den ersten Stock gehen oder einen Zugang zur Lagerhalle suchen sollte.
    Doch dann ging ich zum Tresen, winkte ihr zum Abschied. Sie machte ein Zeichen, ich solle warten. Dann bat sie den Anrufer um einen Augenblick Geduld, legte den Hörer zur Seite und drückte einen Knopf. Ich beugte mich zu ihr und flüsterte: »Haben Sie die Adresse unseres Großvaters William Godin?«
    »Nein.«
    »Ist er ... ist Martin noch mit Zora zusammen?«
    Sie lachte und schwenkte ihr Haar von einer Schulter zur anderen. »Sie gefallen mir. Ich muss Ihnen unbedingt etwas mitgeben.«
    Sie öffnete eine Schublade und zog eine Schachtel hervor, reichte sie mir über den Tresen. Goldgeprägte Schrift auf blauem Karton: KS Enterprise.
    »Ein Musterpack für neue Kunden. Ein Video mit Ausschnitten aus der Produktion. Ich bin mehrmals zu sehen. Ich hoffe, ich gefalle Ihnen. Bitte sehen Sie es sich an. Außerdem ist noch etwas zum Aufblasen drin. Es hat keine Arme und keine Beine. Noch als Testausführung. Ihr Bruder will es in Hongkong herstellen lassen. Er hat ein weltweites Patent dafür.«
    »Nein!« Ich hob beide Hände. »Danke. Ich glaube, ich möchte das nicht. Wirklich nicht.«
    Ich schob es mit den Fingerspitzen in ihre Richtung.
    »Schade, aber wie Sie wollen. Nur eines noch: Wenn Sie ihrem Bruder das nächste Mal begegnen, fahren Sie ihm das andere Bein bitte auch noch ab.«

29
    Das Verteilen des Geldes an die Familienmitglieder änderte sich, als ich älter wurde. Statt Bargeld gab es Schecks, und Großvater kam nicht mehr zu uns, sondern lud uns einmal im Monat zum Essen ein, meist in demselben Restaurant. Der Grieche.
    Ich glaube, jeder sollte sehen, dass jeder bezahlt wurde. Bei diesen Treffen wurde nichts Bestimmtes besprochen, ganz im Gegenteil bemühten wir uns einfach nur, über Alltägliches zu plaudern, um dem Abend seine Bedeutung zu nehmen. Jeder berichtete von seinem Alltag, von Gewohnheiten oder Beobachtungen. Jeder suchte, allerdings ohne großen Nachdruck, beim anderen Bestätigung in seiner Art, zu leben und die Dinge zu sehen. Niemand wollte herausfallen oder anders sein als alle anderen. Großvater verlangte keine Gefälligkeiten, keine Berichte, disziplinierte niemanden mehr. Er trug wenig zur Unterhaltung bei, sondern aß schweigend, hörte zu, nickte, wenn er angesprochen wurde. Manchmal, wenn das Hauptgericht nicht schnell genug aufgetragen wurde, bemerkte ich seine Unruhe. Er formte dann die Serviette, knetete sie, knüllte sie zusammen und schleuderte sie unter den Tisch.
    Nach einiger Zeit begann ich, mich zu langweilen. In der ersten Zeit ging ich dann zur Toilette. Auf dem Weg, an der Küchentür, erwartete mich meist der Sohn des Wirts, etwa in meinem Alter. Er holte aus einem Versteck einen italienischen pornografischen Comic und zeigte ihn mir. Seine Bilder ließen mir den Atem stocken, weil hier Fabelwesen miteinander Geschlechtsverkehr hatten, die von beiderlei Geschlecht waren. Selbst nach ein paar Jahren verlor das Heft nicht an Faszination. Der Junge lehnte, während ich die Bilder betrachtete, an einer Klotür und beobachtete mich lächelnd.
    Mit flachen Atemzügen kehrte ich zurück an den Tisch. Auf den Tellern kopulierten die Speisen.
    Bei einem dieser Treffen geschah am Ende Ungewöhnliches. Großvater stand auf, schlug sanft gegen sein Glas und sah uns der Reihe nach an. So etwas war noch nie vorgekommen. Offensichtlich wollte er eine Rede halten. Wir hatten aufgehört zu sprechen und zu essen. Er betrachtete uns scheinbar ohne besondere Regung. Er kaute an etwas, seine Lippen schoben sich in seinem Gesicht hin und her. Dann fuhr er sich mit der Zunge über die Zähne und schluckte. Wahrscheinlich eine letzte Faser seines Hühnerfleisches.
    Schließlich holte er tief Luft und sagte: »Ich liebe euch alle.«
    Wir warteten, aber mehr kam nicht. Vielleicht wollte er nicht mehr sagen, vielleicht hatte er es sich anders überlegt.
    Er nickte mit dem Kopf, setzte sich wieder und tippte ein Stück Brot in die Soße auf

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