Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Titel: Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
Vom Netzwerk:
musste sich keiner bei ihm bedanken. Es hätte wohl auch keiner getan.
    Danach lehnten wir uns alle erschöpft zurück. Kaum jemand sprach, während der Anwalt sich den Mantel überzog und ging. Meist war es meine Großmutter, die danach den Raum verließ. Sie erhob sich und schimpfte in Richtung des leeren Sitzes meines Großvaters. Es waren harmlose Flüche. Sofort standen alle auf und gingen.
    An diesem Abend dauerte es nach Großvaters Liebeserklärung ein paar Minuten, bis die Gespräche wieder ihren gewohnten Gang nahmen. Meine Großmutter neigte sich mir zu und flüsterte in mein Ohr: »Weil er weiß, dass er mit seiner Liebe unseren Hass provoziert, müssen wir, um nicht seiner Erwartung zu entsprechen, ihn wirklich lieben.«
    Großvater schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Hier wird nicht geflüstert!«
    Großmutter lachte.
    Mein Großvater stand auf, trank den letzten Schnaps im Stehen. Zora wollte ihn begleiten, aber er schickte sie mit einer Handbewegung zurück. Der Wirt buckelte.
    Es war der letzte Abend dieser Art. Danach sah ich ihn nur noch wenige Male auf Geburtstagsfeiern. Die Schecks kamen per Post.

30
    Ich klingelte doch am Haus meines Bruders.
    »Ich bin Gordon Paulson. Ich möchte Zora sprechen«, sagte ich in die Gegensprechanlage. Es kam keine Antwort, aber ich hörte Geräusche im Haus.
    Nach langem Warten öffnete sich die Tür. Es war die junge Frau, die schon mein Geschenkpaket hereingeholt hatte. Sie sah mich an, als hätte sie gerade einen Blick auf die tote Katze geworfen. Sie bewegte die Lippen, aber brachte kein Wort heraus. Sie zog die kräftigen Schultern und mit ihnen ihr blaues verblichenes Kleid in die Höhe. Eckige Knie kamen zum Vorschein. Es gelang ihr nicht zu sprechen. Sie breitete die Hände aus.
    Ich antwortete für sie: »Zora ist nicht da?«
    Sie schluckte. »Meine Mutter, ich fürchte, im Augenblick ...«
    »Du bist Helen? Ist es wahr, du bist wirklich ...«
    Sie schüttelte den Kopf und nickte. Ihr schwarzes Haar war gelockt und fiel bis zur Schulter. Das Gesicht wirkte jünger als ihre Frisur. Die Mimik war die eines beständigen Schmerzes. Die Linien von Mund und Augen erinnerten mich an ein Gemälde des belgischen Surrealisten René Magritte. Ein Frauenakt als Frauengesicht. Vielleicht ist das die Strafe für Pornofilmer, dass ihre Töchter nackt im Gesicht sind, selbst wenn es nur angenommene Töchter sind.
    »Du bist doch Helen?«
    »Ja, schon.« Sie hob beide Hände, ballte sie zu Fäusten.
    »Was ist mit dir?«
    »Bitte kommen Sie ein anderes Mal wieder.«
    »Verdammt, ich hab dich seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Du warst etwa so groß.« Ich zeigte mit der flachen Hand, dass sie mir etwa bis zur Hüfte gereicht hatte. »Ich bin so etwas wie dein Onkel.« Ich hoffte, es würde sie entspannen, aber sie kaute auf den Lippen und trat von einem Bein auf das andere.
    »Ja, sicher, ich glaube es ja, aber jetzt im Augenblick ...« Sie ging zurück hinter die Tür, wollte sie schließen. »Bitte gehen Sie.«
    »Warte ...«
    »Ich bin fertig«, rief eine Frau aus dem oberen Stockwerk. »Helen, bitte hilf mir, den Koffer zu tragen.«
    »Sie sehen, wir sind gerade im Aufbruch. Es geht jetzt wirklich nicht.«
    »Ich sage Zora nur kurz Guten Tag, dann bin ich wieder weg.«
    Helen drehte den Kopf ins Haus. »Ich komme gleich«, rief sie.
    Eine steile Treppe führte nach oben. Auf einer schmalen Kommode entdeckte ich das Geschenkpaket. Es war noch nicht geöffnet worden.
    Helen wandte sich wieder mir zu. »Sie müssen gehen, bitte, sofort. Meine Mutter ist im Augenblick wirklich nicht in der Lage ... Sie ist krank, wir fahren ins Krankenhaus. Sehr krank. Bitte, es geht nicht. Bitte, bitte, gehen Sie. Sie tun ihr keinen Gefallen.« Helen bekam ein rotes Gesicht, ihre Lippen zuckten, und mit beiden Händen knetete sie den Stoff ihres Kleides.
    »Schon gut, ich gehe.«
    In diesem Moment kam Zora in einem silbernen Hosenanzug die Treppe herab. »Bitte, Helen, mein Koffer! Schnell!«
    Sie entdeckte mich, blieb stehen, drehte den Kopf. »Gordon?« Sie ging eine weitere Stufe hinunter. »Bist du das, Gordon?«
    Sie kam ganz herunter, auch ihr Haar war mit Silberglanz gepudert. »Tatsächlich, Gordon.«
    Sie drehte sich um. »Helen, es ist Gordon. Du weißt doch. Gordon. Er kann mich fahren.«
    »Klar, mache ich gern.«
    »Nein, nein. Ich mache das.« Helen rannte die Treppen hinauf, nahm je zwei Stufen auf einmal.
    »Vorhin wolltest du nicht«, sagte ihre Mutter.

Weitere Kostenlose Bücher