Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman
seinem ansonsten leeren Teller. Der Wirt, ein Grieche, war beim Klang des Glases erschrocken hinter seinem Tresen hochgefahren. Mit eingezogenem Kopf, krumm und mit eiligen Schritten kam er und servierte dem alten Mann seinen Lieblingspudding. Rückwärtsgehend entfernte er sich. Ich glaube, er hätte sich am liebsten entschuldigt, wusste nur nicht, wofür.
Keiner wagte, etwas zu sagen. Ich hatte die Luft angehalten. Noch nie hatte Großvater so etwas gesagt. Ich glaube, keinem von uns wäre es eingefallen, diese Liebesbezeugung ernst zu nehmen oder gar zu erwidern.
Früher traf sich die Familie nur auf Geburtstagsfesten. Etwa mit meinem sechzehnten Geburtstag hatten diese monatlichen gemeinsamen Essen beim Griechen begonnen. Ursache konnte sein, dass meine Großmutter sich offiziell von ihm getrennt hatte. Großvater hatte zwar Wohnungen in Frankfurt und in Berlin, reiste viel, aber die meiste Zeit des Jahres verbrachte er in seiner Hütte im Harz. Meine Großmutter war einer Siedlungsgemeinschaft beigetreten, die auf dem Land Häuser nach bestimmten ökologischen Richtlinien baute. Ich glaube, es waren Holzhäuser, die kaum Energie verbrauchten oder gar keine Anschlüsse an die öffentliche Versorgung besaßen. Die Bewohner wollten autark leben, sich aus dem eigenen Garten ernähren.
Mein Großvater brachte zu den gemeinsamen Essen jedes Mal seinen Anwalt mit. Es war immer der Tag, an dem er ihn in seiner Kanzlei besuchte. Es gab eine feste Sitzordnung an einem langen Tisch: Mein Großvater an der Stirnseite, rechts neben ihm der Anwalt, dann kamen meine Großmutter und meine Eltern. Ich hatte den Platz zur Linken meines Großvaters einzunehmen, neben mir mein Bruder, dann ein freier Stuhl für Frederik. Er kam nie. Im letzten Jahr der Treffen nahm Zora den Platz ein, und der Wirt stellte für ihre Tochter Helen einen Kinderstuhl dazu.
Weil wir sehr früh aßen, waren wir fast immer die einzigen Gäste. Jeder dieser Abende lief fast gleich ab. Wir kamen alle pünktlich. Keiner sollte Gelegenheit haben, über einen anderen, weil abwesend, schlecht zu sprechen. Meine Großmutter bildete die Ausnahme, sie war immer etwas zu spät. Sie bestellte kein Getränk und aß auch nichts. Ich glaube, aus Protest. Sie schaute uns beim Essen zu, und ihre Mimik war oft voller Ekel.
Großvater aß immer das Gleiche, das nicht auf der Karte stand, sondern extra für ihn angefertigt wurde: eine dünne Suppe mit Eierstich, einen grünen Salat, ein flach geklopftes Hühnchenteil mit Butter und Salbei, das mich an ein Stück Menschenfleisch erinnerte, und im Anschluss einen Karamellpudding. Er bestellte Wein und Wasser und missbilligte es, wenn jemand etwas anderes zu trinken bestellte. Bei den Speisen hatten wir freie Wahl, wobei die Speisekarte dieses Restaurants keine große Auswahl bot. Ich glaube, ich aß jedes Mal Spaghetti mit Gemüse. Weil Großvater so lange Wein nachbestellte, wie wir wollten, trank ich viel. Gleichzeitig gaben mir diese Abende das Gefühl, ihm überlegen zu sein. Er bohrte in den Zähnen, kaute manchmal endlos, und das Weiß seiner Augen war gelb. Manchmal zitterten seine Hände, und sie hatten die fleckige Haut eines Toten.
Nach den ersten Semestern meiner Studentenzeit an der Kunstakademie begannen diese Abende, mich oft zu quälen. Aber ich ging trotzdem hin, denn ich bekam jedes Mal einen höheren Scheck. Mit dem Geld ging ich verschwenderisch um. Kaufte mir Menschen, Freunde. Die meisten meiner Kommilitonen mussten mit erheblich weniger Geld auskommen. Ich studierte bereits ausschließlich Kunst und war nur pro forma an der Uni für Jura eingeschrieben. Der Sohn des Wirts war zu dieser Zeit nicht mehr da. Sein Vater hatte ihn nach Griechenland zurückgeschickt, um sich eine Frau zu suchen.
Jeder blieb am Tisch sitzen, bis Großvater ging. Er trank am Schluss einen Espresso und einen Ouzo. Danach wischte er sich über Mund und Gesicht, stand auf und brummte. Er verabschiedete sich nicht, und niemand von uns sagte ihm Auf Wiedersehen. Manchmal schob Zora ihren Stuhl zurück, begleitete ihn bis zur Tür, gab ihm die Hand, sagte leise etwas. Der Wirt hielt ihm die Tür auf und verbeugte sich mehrmals. Ich habe meinen Großvater niemals eine Rechnung bezahlen sehen. Wahrscheinlich bekam er sie geschickt, oder der Wirt stand in seiner Schuld.
Kaum war Großvater gegangen, öffnete der Anwalt seine Aktentasche und verteilte die Umschläge mit den Schecks. Es war gut, dass Großvater vorher ging, so
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