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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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Fuß den Faden entlang, kommt nicht vom Weg ab, denn dies ist euer Weg, geht ihn bis zum Ende!«
    Ywha vermochte die schweigenden Hexen, die am anderen Ende des Saals standen, nicht klar zu erkennen. Selbst als sie sich anstrengte nicht. Sie fröstelte schon nicht mehr, sondern schlotterte, als habe sie hohes Fieber. Das Mädchen im Jogginganzug weinte, schluckte die Tränen aber hinunter und schrie immer lauter und lauter.
    Ich muss mich an etwas erinnern, dachte Ywha panisch. Ich muss an etwas Schönes denken, mich an mein Leben erinnern! Ich! Zum letzten Mal bin ich ich! Bald wird es mich nicht mehr geben. Nie mehr! Klawdi! Klawdi, bitte, erinner dich an mich. Erinner dich an mich wie an dieses Mädchen aus deiner Jugend. Wie ich es beneide, wie ich …
    »Beschreitet euern Weg! Möge euch ein gleichmäßiger beschieden sein!«
    Nacheinander fielen vier lange Schnüre auf den Boden. Vier willenlose Schlangen, die zu vier Zeichnungen erstarrten, alle grundverschieden voneinander. Vor dem Mädchen erstreckte sich eine fast gerade Linie, die nur am Anfang einige Schlaufen aufwies. Die Alte stand vor einem Labyrinth aus Knoten, während sich die Dame mit der Dauerwelle mit Ringen konfrontiert sah, die fast eine Spirale bildeten. Vor Ywha jedoch …
    Vor Ywha lag ein wirres Knäuel. So verworren und straff, dass selbst die Hexe – Ywha fing aus den Augenwinkeln heraus ihren Blick auf – unwillkürlich zusammenzuckte, um anschließend beredte Blicke mit ihren Gefährtinnen zu wechseln, die schweigend am anderen Ende des Saals warteten.
    »Folgt dem Faden. Hört auf eure Natur. Weicht nicht vom Weg ab. Geht.«
    Ich komme da sowieso nicht durch, stellte Ywha mit einer fast freudigen Erregung fest. Das ist doch kein Weg, der mir vorgezeichnet ist, sondern eine Falle, die sie schon vor langer Zeit aufgestellt haben.
    Unbekümmert tat sie einen Schritt nach vorn, setzte den Turnschuh auf den Anfang der Schnur. Und genau in dieser Sekunde wurde ihr klar, dass sie zum Ende des Weges gelangen würde.
    Dass sie durchkommen würde.
    Ein Feuer loderte auf.
    Die Turnhalle existierte nicht mehr.
     
    Das Mädchen lief über Eisenbahnschwellen, über ein schmales Gleis. Zwei quecksilbrig funkelnde Schienen wiesen ihr den Weg.
    Sie ging weiter, stolperte und erstarrte, während sich das Gleis verhedderte, an den Weichen verzweigte und in Kurven ertrank. Die Weichenhebel hinter ihr blinzelten zufrieden mit ihren trüben Scheinwerferaugen und klackten, als werde eine Tür zugeschlagen. Als markierten sie die durchlaufene Etappe.
    Sie ging weiter, den Blick unverwandt nach vorn gerichtet, wo sich die Schienen im Nebel verloren. Scharfer Wind schlug ihr wie ein Rammbock ins Gesicht. Der Nebel. Der Wind …
    Offenbar hatte sie den Zug verpasst. Jetzt musste sie rennen. Sie musste …
    Sie wusste, dass sie den Weg beenden würde.
    Die Alte lief auf einem Haar entlang. Ein graues endloses Haar war das, und unter ihr lag namenlose Dunkelheit. Die Alte schwankte, fing mit den Händen ihr weggleitendes Bewusstsein ein und ging weiter, sich selbst vor Augen, jung und stark, genau wie sie an jenem Tag gewesen war, als sie auf dem Heuboden der Landstreicher mit den weißen Zähnen überwältigt hatte, dem sie dann die verrostete Spitze einer Eisensense in die Leber gerammt hatte. Jetzt schritt sie auf dem grauen Haar aus und wusste, dass sie den Weg ganz bis zum Ende gehen würde.
     
    Die Frau schlitterte über Eis. Über brüchiges Frühlingseis. Von unten, durch die transparente Kruste hindurch, schauten sie ihre ungeborenen Kinder an. Zwei Jungen und ein Mädchen. Die Frau wusste, dass sie auf gar keinen Fall auf ihre Gesichter treten durfte. Eher noch würde sie ihren Fuß in ein Eisloch setzen. Allerdings rückten diese näher und näher, die Frau irrte über das Eis und machte, ihren Spuren folgend, kehrt, dabei ein ums andere Mal auf Spuren stoßend, die von winzigen nackten Füßen stammten.
    Die Frau biss die Zähne aufeinander und machte wieder kehrt. Sie musste den Weg zu Ende gehen. Ihr blieb keine andere Wahl.
     
    Ywha ging den eingeringelten Körper einer gelb gestreiften Schlange entlang. Die Schlangenmuskeln federten unter ihren Füßen. Lautlos weinte sie, während sie sich wieder und wieder zu einem Schritt durchringen musste, denn am Ende ihres Weges erwartete sie der flache Kopf mit der zuckenden, gespaltenen Zunge. Die starren Augen blickten sie unerbittlich und zugleich verständnisvoll an. Genau so hatte Klawdi sie

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