Das Jahrhundert der Hexen: Roman
Leitungen, die Abflussrohre und die Metrotunnel. Die Gardeeinheiten, die vor einer Woche nach Wyshna verlegt worden waren, schlugen ihre Lager mitten auf den einst belebten Plätzen auf und trauten sich nicht näher an die Gebäude heran, da sie fürchteten, unter Trümmern begraben zu werden.
Wer aus den Kreisen kam, wer eine lange und qualvolle Reise durch das verheerte Land hinter sich gebracht hatte, wusste noch weit absonderlichere Dinge zu berichten. So sollte beispielsweise in Odniyza ein gespenstisches, schleimiges Monster aus dem Meer gestiegen sein. In den Weinhängen von Egre würden an den Rebstöcken runde Menschenaugen reifen, während sich auf den Feldern von Rjanka alle einst in der Erde vergrabenen Knochen erhöben und in Altyza die Kühe ausnahmslos tote menschliche Kinder kalbten. Zahllose solcher Geschichten machten die Runde. Nahm es da noch Wunder, dass sich überall auf den Straßen Wahnsinnige herumtrieben, allerorten Njawken auftauchten, aber niemand mehr glücklich darüber war, von den Tschugeistern einmal abgesehen, die auch weiterhin ruhig und konzentriert, als sei nichts geschehen, ihre Arbeit erledigten.
»Zu Beginn unserer Versammlung möchte ich etwas mitteilen, damit ich es nachher nicht vergesse«, erklärte Klawdi mit schiefem Lächeln. »Mein Stellvertreter hat eine Vereinbarung mit der Leitung des Tschugeister-Dienstes getroffen. Ausnahmsweise sollen ihre Leute ihre Tätigkeit auf Hexen ausdehnen. Wann immer und wo immer das möglich ist. Sicher sollte ihre Hilfe nicht überschätzt werden. In unserer Lage jedoch, meine Damen und Herren, sollten wir auch die unbedeutendste Unterstützung nicht ausschlagen. Jetzt bin ich bereit, Sie anzuhören. Jeden Einzelnen von Ihnen, ohne Ausnahme. Nur würde ich Sie bitten, sich kurz zu fassen.«
Unmittelbar an der Tür saß Fedora, den Kopf in die Hand gestützt und hohlwangig. Alles und jeder war ihr gleichgültig. Sie quälte nur eine einzige Frage: Wie konnte Klawdi Starsh, der Großinquisitor von Wyshna, wie nur konnte er, der Mann ihrer Träume, mit dieser jungen Hexe ins Bett steigen?!
Während sich Klawdi den ganzen Schwall der gegen ihn erhobenen Beschuldigungen anhörte, sah er sich jeder Möglichkeit beraubt, Fedora zu erklären, dass er nicht mit der Hexe geschlafen hatte. Er konnte ihr nicht einmal sagen, dass er seit sehr langer Zeit mit keiner Frau mehr geschlafen hatte, eine Enthaltsamkeit, die zwar für die Gesundheit mit Sicherheit schädlich war, dafür aber für die Seele angeblich höchst vorteilhaft sein sollte. Denn er, Klawdi, liebte schon seit langer Zeit niemanden mehr. Sein ganzes Leben lang, sozusagen. Es war eine andauernde, lange und hoffnungslose Enthaltsamkeit.
Fedora vernahm seine Gedanken jedoch nicht. Verhärmt starrte sie auf den Tisch. Schließlich beruhigte sich Klawdi und hakte sie innerlich ab. War es letztlich nicht einerlei, was sie von ihm dachte? Sollte sie ruhig annehmen, er sei mit einer Jüngeren ins Bett gegangen. Das würde es ihr leichter machen. Dann konnte sie das alles besser für sich verarbeiten.
Augenscheinlich bereiteten die versammelten Kuratoren seine Absetzung vor. Die Rollen für dieses Szenario waren schon vorab verteilt worden. Sicher, sie fürchteten einen Krieg gegen die Hexen, drohten diesen doch die Menschen zu verlieren; das hinderte sie jedoch nicht daran, die Stühle neu zu besetzen. Zur Zeit erhob der fette Foma aus Altyza Anspruch auf den Posten des Großinquisitors – besser als alle anderen glaubte er zu wissen, was zu tun war, sobald er erst einmal die noch von seinem Vorgänger gewärmten Zügel der Regierung in Händen hielte.
Klawdi drehte den Kopf ein wenig und schaute zum Fenster hinaus. Auf den Rauch, der durch die Stadt waberte. Wenn sie sie vor der Initiation gefangen nehmen, sinnierte er, besteht noch Hoffnung, sie in den Gefängnissen zu finden. Wenn sie das Ritual jedoch schon durchlaufen hat …
Klawdi erschauderte. Unter großer Anstrengung setzte er sich wieder die Maske des Gleichmuts auf. Alle aktiven Hexen wurden inzwischen schon bei der Verhaftung getötet. Ohne Prozess. Die ersten Körper hatten bereits gebrannt. Und er, Klawdi, saß hier und hörte sich diesen Schwall schlecht bemäntelter Beleidigungen an, während an der rothaarigen Ywha womöglich schon ihre Strafe vollstreckt wurde …
Wie immer, sagte das schwarze Flachrelief auf Djunkas Grabstein, dieses Abbild einer Frau, das sonst wen darstellen konnte: Djunka, Ywha, ja, selbst
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