Das Jahrhundert der Hexen: Roman
nicht altersgerechten Blick, als quäle sie sich unablässig mit der Frage: Was kann ich schon gegen das Schicksal ausrichten?
Ihre Mutter war auf eine Geschäftsreise gegangen, die auch als »ein Monat Urlaub mit Onkel Klaw an einem menschenleeren Ferienort« hätte umschrieben werden können. Darüber hinaus blieb die Frage, ob überhaupt jemand etwas gegen das Schicksal ausrichten konnte.
Das Auto erreichte den Platz des Siegreichen Sturms. Voller Genugtuung registrierte Klawdi, dass er sich tatsächlich von den verbotenen Gedanken hatte losreißen können. Noch ein paar Stunden Schlaf – und er war imstande weiterzugraben. Denn er zweifelte nicht im Geringsten daran, dass nicht bloß Rjanka und Odnyza von Hexen mit derart tiefen Brunnen heimgesucht werden würden. Vorerst musste all dies jedoch noch warten. Damit würde er sich später befassen.
Der Bodyguard schaute ins Haus, kam zurück und stellte sich respektvoll hinter den Großinquisitor, abwartend, bis dieser es aufgab, das Irisbeet zu betrachten, und hinaufgehen würde. Klaw winkte ihm träge zu. »Geh nur … Saly … Tschüs.«
Im Treppenhaus war es kalt und feucht. Klawdi musste den gesamten ersten Absatz hinter sich bringen, um endlich die Anwesenheit einer Hexe zu wittern.
(Djunka. April)
Er brachte ihr Brot, Kefir und abgepacktes Essen aus der Mensa. Anscheinend aß sie nichts. Sie brach ein Brötchen in Stücke und verteilte den Kefir auf mehrere Gläser, allerdings nur, um die Illusion einer Mahlzeit zu schaffen. Widerspruchslos wusch Klaw das Geschirr ab und brachte ihr weiteres Essen. Er akzeptierte die Spielregeln, ja, mehr noch: Er versuchte, an sie zu glauben.
Er hatte die Schule fast ganz aufgegeben, sah jetzt dürr und abgezehrt aus. Juljok Mytez wollte schon die zweite Woche nicht mit ihm sprechen, weil Klaw ihn auf eine harmlose Frage heftig angefahren und grundlos beleidigt hatte. Noch stärker verübelte ihm Juljok die Tatsache, dass er allem Anschein nach als Einziger unter dem »Boykott« litt. Klaw selbst pfiff auf derartige psychologische Feinsinnigkeiten.
Klaw lebte sein Leben, von der übrigen Welt durch einen undurchdringlichen Schleier getrennt. In der winzigen Wohnung im vierzehnten Stock jenes Ameisenhauses wartete tagein, tagaus die geliebte Frau auf ihn, die eigentlich tot war. Permanent von seiner Umwelt isoliert, versuchte Klaw die entscheidende Frage seines Lebens zu beantworten: War er glücklich oder litt er?
Wenn er sie berührte, musste er sich jedes Mal überwinden. Da er den Geruch nach Wasser, der von ihr ausging, nicht einatmen wollte, hielt er die Luft an, zwang sich, den Mund zu öffnen und den Kuss zu erwidern. Doch währte der qualvolle Kampf nur eine Minute, danach folgte sein Körper den Instinkten und nahm in ihren Berührungen das reale gierige Fleisch wahr. Sobald er dann auf sie reagierte, glomm es in seinem Körper auf, während Djunkas Körper die Kälte verlor, die Zurückhaltung aufgab. Ihre Haut färbte sich rosa, ihre Lippen röteten sich, und bei jeder Liebkosung des schlanken Halses fühlte er den Puls, den Strom ihres Blutes.
In solchen Augenblicken kehrte sein Gedächtnis nahezu mühelos zu jenem warmen Sommer zurück, und er flüsterte verzweifelt: »Verzeih mir, Djunotschka«, und umarmte sie, als wolle er sie erdrücken.
So lebten sie bereits einen Monat wie Mann und Frau zusammen.
Er verkaufte einem Antiquar ein Dutzend seiner Lieblingsbücher, um ihr ein Kleid und Unterwäsche zu besorgen, Schuhe und Pantoffeln, ja, sogar Kosmetik. Er hoffte, die Dinge des menschlichen Alltags würden, in zwangloser Ordnung in der bescheidenen Wohnung verteilt, ihnen beiden helfen, den zarten Schatten des Wahns zu vertreiben, der sich nun einmal über ihr seltsames Spiel gelegt hatte. Eines Tages schlug er ihr sogar vor: »Wollen wir nicht mal deine Eltern anrufen?«
Djunka sah ihn lange mit unverwandtem Blick an. Schließlich schüttelte sie bedächtig den Kopf, worauf Klaw seine dumme Frage bereute.
Ihre Haare wollten allerdings nie trocknen. Sobald Klaw sie in den Arm nahm, legten sich die feuchten Strähnen wie kalte Schlangen auf seine Schulter. So zählte er denn das Geld, das noch vom letzten Besuch bei dem Buchhändler übrig war, und kaufte ihr einen starken, fünfstufigen Föhn.
Sie schien sich darüber zu freuen. Gedankenversunken saß er in dem renovierungsbedürftigen, engen Zimmer und lauschte dem Dröhnen, das aus dem Bad herüberdrang. Nach einer Weile drang das
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