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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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Hexe! In den nächsten zehn Minuten!
    »Ja«, blaffte der Inquisitor. »Darüber können wir nachher noch diskutieren, Hljur. Oder wir vergessen das Ganze am besten gleich! … In drei Stunden brauche ich die Liste mit allen Namen. Bis dahin halte mich für tot.«
    Der Hörer lag wieder auf der Gabel.
    »Ich lasse mich nicht registrieren …«, sagte Ywha tonlos.
    »Du hast eine gute innere Abwehr«, urteilte der Inquisitor, während er zum Fenster hinausblickte. »Wie geht es dir?«
    Verblüfft stellte Ywha fest, dass ihr kaum noch schlecht war. Ihre Übelkeit hatte sich verflüchtigt, war ganz und gar verschwunden.
    »Eine gute Abwehr«, wiederholte der Inquisitor zerstreut. »Willst du vielleicht schlafen, Ywha? Ich schon. Sehr sogar, Ywha. Falls ich jetzt nicht wenigstens zwei Stunden Schlaf bekomme, dürfen die Hexen sämtlicher Provinzen vermutlich mein baldiges Ableben feiern.«
    Er rieb sich die Augen. Zunächst lässig, dann so kräftig und angestrengt, dass sich die Lider im Nu röteten.
    »Ich lege mich jetzt hin, Ywha. Geh in die Küche, nimm dir aus dem Kühlschrank, was dir gefällt, und iss etwas … Wenn du willst, schlaf auf dem Sofa. Es gibt nur zwei Sachen, die du nicht machen solltest.« Er seufzte. »Lass die Finger von der Wohnungstür und setz keinen Fuß in mein Arbeitszimmer. In beiden Fällen würde ich sofort aufwachen, und das würde, wie es in Romanen so schön heißt, meine Nerven erschüttern. Geh auch nicht ans Telefon …«
    Ywha brachte kein Wort heraus.
    Die Ereignisse wirkten erstaunlich irreal. Inzwischen hatte sie sich auf den piekenden Läufer vorgewagt. Ihre Socken waren durchnässt, es schien ihr jedoch allzu leger, sie vor dem Großinquisitor auszuziehen. Dergleichen wäre unangebracht, zu intim.
    Die schwere Tür des Arbeitszimmers schloss sich. Die eigenwillig geschwungene Klinke klackte. Ohne viel Federlesens ließ sich Ywha einfach auf den Boden herab.
    Draußen regnete es noch immer. Im Fernseher, den Klawdi auszuschalten vergessen hatte, flimmerte ein Reklamespot.
    Im Schneidersitz lauschte Ywha auf das Wehklagen ihrer Muskeln. Die Jeans waren völlig durchgeweicht. Ein Feuerchen wäre jetzt schön, ein Kamin …
    Ein Lagerfeuer.
    Ywha erschauderte. Im Fernsehen loderte ein Scheiterhaufen, doch die Kamera, offenbar von einem Amateur geführt, zuckte heftig, weshalb das Metallgerüst nicht zu erkennen war, an dem die Flamme hochzüngelte. Ach nein, jetzt erkannte sie den Basketballkorb. Und offenbar war an die Metallstange ein Mensch gefesselt. Das am Ring baumelnde Netz war bereits verbrannt. Schreiende Menschen, die an Fans erinnerten. Ihre Schreie blieben stumm, denn der Ton war abgestellt. Ein Feuerwehrauto sauste ins Bild, weitere Menschen eilten herbei, diesmal in Uniform. Wie in Zeitlupe gingen Knüppel nieder. Dann brach der Film ab.
    Der sprechende Kopf des Kommentators. Immer noch dieser südländische, vogelartige Typ mit dem scheuen Mitleid in dem hageren Gesicht. Ywha hielt nach der Fernbedienung Ausschau. Da sie sie nicht fand, ging sie zum Fernseher und suchte den Knopf, der den Ton zuschalten würde.
    »… hat darüber hinaus bestätigt, dass nie zuvor in den letzten zwanzig Jahren derart strenge Maßnahmen ergriffen worden sind. Ihre Wirksamkeit hätten sie bereits unter Beweis gestellt, denn zwei Stunden nach Einleitung der prophylaktischen Vorkehrungen im Kreis Odnyza konnten fünf extrem gefährliche Individuen vernichtet und neunzehn Durchschnittshexen verhaftet werden. Der Großinquisitor hält es zudem für seine Pflicht zu betonen, dass er in engem Kontakt mit den Einrichtungen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung stehe und kein weiteres Umgreifen der Lynchjustiz zulassen werde, da diese nicht nur der Inquisition selbst Schaden zufüge, sondern auch als inhuman und blasphemisch einzustufen sei …«
    Mit untergeschlagenen Füßen saß Ywha da, und der allzu nahe Bildschirm brannte ihr in den Augen.
    »… größte Kräfte wende man nach wie vor auf, um unregistrierte Hexen aufzuspüren. Von heute an würden alle Todesurteile der Inquisition innerhalb von vierundzwanzig Stunden vollstreckt, zudem sei die Liste der Straftaten, die eine Verhaftung oder den Tod einer Hexe nach sich ziehen, erheblich erweitert worden …«
    Noch während Ywha den Apparat ausschaltete, spürte sie genussvoll die eigene Macht. Ein perfides Vergnügen, als der vogelgesichtige Sprecher verblasste und erlosch, sich zusammenzog – und alles, was von ihm noch

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