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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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dem Boden liegen – denn nur die Besiegten krümmen sich zu Füßen ihres Gegners.
    »Tut mir leid, das wollte ich nicht … Aber deine Freiheitsliebe ist schon richtig pathologisch. Du fühlst dich ja selbst dann noch unter Druck gesetzt, wenn nicht mal jemand welchen ausübt.«
    Ywha betrachtete ihre Hand, die sich im Nu rötete.
    Schon wollte sie ihm erwidern, er als Großinquisitor brächte es einfach nicht fertig, keinen Druck auf sein Gegenüber auszuüben, da er bereits so mit seiner Rolle verwachsen sei, dass er das selbst bei Kleinigkeiten tue. Dass er ohne jeden Grund und Anlass, ohne es selbst zu merken, Druck ausübe. Da sie sich in ihrer Situation dergleichen jedoch besser verkniff, hörte sie bloß darauf, wie ein grauer Spatz auf der anderen Seite des Fensters tschilpte.
    Inzwischen hatte der Inquisitor mit dem Essen begonnen. Er aß ohne jede Hast, aber dennoch sehr schnell, aus Gewohnheit schnell, wie ein Soldat oder ein Akkordarbeiter. »Du hast doch in der Schule Prüfungen ablegen müssen, oder?«
    Ywha erschauderte.
    »Dann lös doch spaßeshalber mal folgende Aufgabe. Du hast eine Stadt voller Menschen. In dieser Stadt ist eine Bombe versteckt. In einer Stunde wird sie explodieren, vielleicht in der Metro, in einem Krankenhaus oder einem Kindergarten. Der einzige Mensch, der weiß, wo sie hochgehen wird, ist eine zu allem entschlossene Frau, die allerdings jede Aussage verweigert. Du ermittelst in der Sache. Du bist ein Mann in mittleren Jahren. Was unternimmst du?«
    Begriffsstutzig schwieg Ywha. Was sollte das? Was hatte sie damit zu tun? Schließlich verstand sie nicht das Geringste von Bomben!
    Der Inquisitor schob seinen Teller zur Seite. Er holte eine Zigarettenschachtel von länglicher Form aus der Tasche und fing gierig und sogar ein wenig hingebungsvoll an zu rauchen. »Komm ja nicht auf die Idee, die Geschichte auf dich zu beziehen«, warnte er sie, mit zusammengekniffenen Augen in den Rauch spähend. »Die habe ich mir ausgedacht. Sie dient nur als Beispiel. Wie ein Rätsel. Also, was würdest du tun?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Ywha tonlos.
    »Meinst du …«, der Inquisitor zog schon wieder die Augenbraue hoch, »… diesen Menschen, den Erwachsenen und den Kindern, die in einer Stunde sterben, wäre durch deine Unwissenheit geholfen?«
    Alarmiert fuhr Ywha zusammen. Zu sehr glaubte sie an die Macht des Wortes über die Realität. Selbst eine fiktive Geschichte könnte sich bewahrheiten – in einer fiktiven Welt. Und die ausgedachten Menschen in ausgedachten sechzig Minuten in die Luft jagen …
    »Ich müsste herausbekommen, wo sich die Bombe befindet«, brachte sie mühevoll hervor.
    »Wie?« In der Stimme des Inquisitors lag Hoffnungslosigkeit, als drifte das Spiel mit beängstigender Rasanz in die Realität ab. »Wie willst du es herausbekommen – wenn diese Hündin schweigt?«
    »Warum tut sie das?«, fragte Ywha hilflos.
    »Ich weiß es nicht«, gestand der Inquisitor. »Ich habe keine Ahnung. Übrigens läuft die Zeit, fünf Minuten grübeln wir jetzt schon …«
    »Weiß es denn sonst niemand?« Ywha presste die Hände gegeneinander.
    »Nein, niemand«, erklärte der Inquisitor nach einem weiteren Zug an der Zigarette. »Entschuldige, ich habe mir einfach eine angezündet, ohne dich vorher zu fragen. Du rauchst doch nicht, oder?«
    »Es kann nicht sein, dass es sonst niemand weiß!«
    »Doch. Sie hat die Bombe zusammen mit einem Komplizen gebastelt, der inzwischen tot ist. Jetzt ist sie die Einzige …«
    Schließlich setzte sich Ywha, auf den Rand des Hockers, die Knie nervös aneinandergequetscht. »Ich … weiß es nicht. Man müsste sie foltern, damit sie etwas sagt …«
    Die Finger des Inquisitors drückten die brennende Zigarette aus. Asche fiel auf den Tisch, Funken stoben auf, dann erlosch die Kippe. Verängstigt sah Ywha ihn an. Hatte sie etwas falsch gemacht?
    »Genau davon bin ich nicht überzeugt«, sagte der Inquisitor mit tonloser Stimme. »Ich bin nicht davon überzeugt, dass dies der richtige Weg ist. Gestern habe ich den ganzen Tag nichts anderes getan, als Frauen zu foltern, Ywha. Und die öffentliche Meinung, momentan vertreten durch dich, billigt das offenbar.« Er lächelte schief, ohne sie aus den Augen zu lassen.
    »Und was wollten Sie von ihnen?«, fragte sie, bemüht, ihrer Stimme einen möglichst gleichgültigen Klang zu geben.
    »Ich wollte …« Ungeduldig fischte er die nächste Zigarette aus dem Päckchen. »Eigentlich spielt das keine

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