Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
Vom Netzwerk:
der Ferne jaulte eine Diesellok. Klaw spürte – oder bildete er sich das nur ein? –, wie die in der Dunkelheit nicht auszumachenden Gleise bebten und zitterten.
    »Gehen wir, Klaw …«
    Von ihren Augen, so schien es ihm, ging ein weitaus stärkeres Licht aus als von den Laternen, die im Nebel ertrunken waren. Wie hypnotisiert hielt er auf dieses Licht zu.
    »Gehen wir …« In Djunkas Stimme schwang ohne Frage Ungeduld mit.
    Gehorsam folgte er ihr, über die unerwartet hohen Bahnschwellen hüpfend und kletternd. Er versuchte, die Schienen zu meiden, die rutschig wie vereiste Rippen waren. Das ferne Geräusch des Zuges kam nicht näher, entfernte sich jedoch auch nicht. Ein trübes Licht, das vor ihm aufschimmerte, veränderte mit zartem Knirschen seine Position, folglich stellten sich gerade die automatischen Weichen um.
    Klaw sah Djunka nicht mehr, spürte jedoch ihre Anwesenheit: etwas weiter vorn.
    Plötzlich drehte sie sich um. Ihre Augen hoben sich deutlich von der Dunkelheit ab. »Klaw … ich … dich …«
    »Ich dich auch«, erwiderte er rasch. »Ich liebe dich, Djun … Was ist das?!«
    Drei weiße Augen, vom Nebel leicht getrübt, tauchten aus dem Nichts auf. Genauso wie aus dem Nichts ein Donnern losbrach. Dem fast sofort ein Pfiff folgte, der Klaws Inneres in einen einzigen zitternden Klumpen verwandelte.
    Zu viel Zeit verschwendete er an die Frage, ob er sich nach links oder rechts werfen sollte. Die Diesellok ragte mit einer turmhohen, dunkelroten Schnauze über ihm auf, die zwei phosphoreszierende orangefarbene Streifen zierten, ein breiter und ein schmaler. Klaw meinte in der Mitte der Eisenfratze das runde Logo der Herstellerfabrik zu erkennen. Wie ein Eisenbart reckte sich das Gitter vor. Gleich würde der Körper eines Menschen fallen und unter dieses Gitter geraten, unter diesen donnernden, sämtliche Knochen zermahlenden Bauch …
    Der allgegenwärtige Nebel. Kein einziger Stern leuchtete.
    Er lag auf dem Bauch, mit beiden Händen in den vertrockneten Sträuchern des Vorjahrs verhakt. Zehn Zentimeter neben ihm donnerte Eisen über Eisen. Und zwar so, dass die Erde synchron mit dem auf ihr liegenden Menschen bibberte.
    Es war ihm gelungen, seinem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen – falls es denn überhaupt das Schicksal gewesen war, das ihm da in Gestalt eines schweren, hinterrücks aufgetauchten Güterzugs begegnet war.
     
    Zu der älteren Frau im Arztkittel gehörte ein Durchschnittsgesicht, das niemand im Gedächtnis behielt. Lange ließ sie den Blick zwischen der zerbrochenen Scheibe des Autos und Ywhas geschwollenem Gesicht hin- und herschweifen. »Brauchen Sie Hilfe? Hatten Sie einen Unfall?«
    »Vielen Dank, Frau Sat. Dem Mädchen geht es bereits besser. Sorgen Sie bitte dafür, dass der Posten am Eingang die Papiere aller überprüft, die aufs Gelände fahren.«
    »Aber, Patron, er hat Sie doch erkannt …«
    »Setzen Sie ihm bitte auseinander, dass er von allen Papiere zu verlangen hat. Von absolut allen. Ich gehe jetzt nach unten, das Mädchen kommt mit. Wir brauchen einen Begleiter, mit Schlüsseln.«
    »Ich könnte selbst …«
    »Wenn es keine Umstände macht.«
    Es dauerte etwa drei Minuten, bis die Frau dem Safe ein klirrendes Schlüsselbund und einem hohen Schrank zwei weiße Kittel entnommen hatte. Der gestärkte Stoff roch scharf nach Desinfektionsmittel. Mit aufeinandergepressten Zähnen krempelte Ywha die zu langen Ärmel um.
    Im Gang nahm der Geruch noch zu. Von klein auf hasste Ywha den typischen Krankenhausgeruch. Genau wie das Streulicht der weißen Neonröhren, die Blumenkübel mit den unnatürlich grünen Pflanzen und das funkelnde, auf Hochglanz polierte Linoleum.
    »Ist das ein Krankenhaus?«
    »Ja. Ich werde dir nachher auch noch genauer erklären, was für eins.«
    Eine weitere Schmerzwelle ergoss sich in ihren Kopf. Ywha hielt es nicht mehr aus und presste die Hand gegen die Schläfe. Am Ende des Ganges lag eine Treppe, die nach unten führte. Zwei junge Männer in Kitteln, die an ihren kräftigen Schultern spannten, wirkten gleichermaßen bedrohlich und locker. Beim Anblick der Frau mit den Schlüsseln warfen sich beide in Positur, beim Anblick des Inquisitors nahmen sie sogar eine stramme Haltung an.
    »Die Stufen hier sind steil, halt dich an mir fest.«
    Gehorsam hakte sich Ywha bei ihm unter. Im ersten Augenblick glich die Berührung abermals einem leichten Schlag oder schwachen Elektroschock. Das war im Grunde gar nicht so unangenehm, sogar ein

Weitere Kostenlose Bücher