Das Janusprojekt
Das ist im französischen Sektor.»
«Ich weiß, wo der Zentralfriedhof ist, Dr. Bekemeier», sagte ich. «Und wo wir gerade davon sprechen, vielen Dank, dass Sie die ganzen Formalitäten geregelt haben. Wie Sie ja wissen, haben Mutter und ich uns nicht besonders gut verstanden.»
«Es war mir eine Ehre und ein Privileg, das zu übernehmen», sagte er. «Ich war schließlich zwanzig Jahre der Anwalt Ihrer Mutter.»
«Ich nehme an, sie hatte alle anderen Leute vergrault», sagte ich kühl.
«Sie war eine alte Frau», sagte er, als genügte das als Erklärung für alles, was zwischen Erich Grün und seiner Mutter schiefgelaufen war. «Trotzdem, ihr Tod kam doch ziemlich unerwartet. Ich dachte, sie hätte noch etliche Jahre vor sich.»
«Dann musste sie also nicht leiden», sagte ich.
«Überhaupt nicht. Ich habe sie sogar am Tag vor ihrem Tod noch gesehen. Im Allgemeinen Krankenhaus in der Garnisongasse. Da schien sie noch ganz gut beieinander. Bettlägerig, aber eigentlich ganz munter. Schon seltsam.»
«Was?»
«Wie der Tod manchmal kommt. Wenn man gar nicht damit rechnet. Werden Sie hingehen, Dr. Grün? Zur Trauerfeier?»
«Natürlich», sagte ich.
«Wirklich?» Er schien ein bisschen überrascht.
«Das Vergangene soll man ruhenlassen, sage ich immer.»
«Ja, doch, das ist eine bewundernswerte Einstellung», sagte er, als könnte er es selbst nicht recht glauben.
Ich nahm eine Pfeife heraus und machte mich daran, sie zu stopfen. Ich hatte angefangen, Pfeife zu rauchen, um Erich Grün noch ähnlicher zu sein und mich mehr wie er zu fühlen. Ich rauchte nicht gern Pfeife und mochte auch das ganze Drum und Dran nicht sonderlich, aber mir fiel nichts Besseres ein, um mir einzureden, ich sei Erich Grün, es sei denn, ich hätte mir einen Rollstuhl zugelegt. «Kommt noch irgendjemand zur Trauerfeier, den ich kennen könnte?», fragte ich unschuldig.
«Ein, zwei alte Dienstboten werden wohl da sein», sagte er. «Ich bin mir nicht sicher, ob Sie die noch kennen. Natürlich werden noch andere Leute kommen. Der Name Grün hat hier in Wien immer noch einen guten Klang. Wie nicht anders zu erwarten. Ich nehme an, Sie möchten den Trauerzug nicht persönlich anführen, Herr Dr. Grün?»
«Nein, das wäre übertrieben», sagte ich. «Ich werde mich bei dem Ganzen ziemlich im Hintergrund halten.»
«Ja. Ja, das ist wahrscheinlich das Beste», sagte er. «Alles in allem.» Er lehnte sich zurück und legte, die Ellbogen auf den Armlehnen, die Finger aneinander wie Zeltstangen. «In Ihrem Telegramm haben Sie geschrieben, Sie hätten vor, Ihre Anteile an Grün-Zucker zu verkaufen.»
«Ja.»
«Dürfte ich vorschlagen, das vorerst nicht öffentlich zu machen, vielleicht, bis Sie Wien wieder verlassen haben?», sagte er vorsichtig. «Es ist einfach so, dass ein solcher Verkauf ein gewisses Aufsehen erregen wird. Und wo Sie doch ein so zurückgezogen lebender Mensch sind, wäre Ihnen dieses Aufsehen zum Teil vielleicht eher unangenehm. Wien ist klein. Die Leute reden. Allein schon die Tatsache, dass Sie hier sind, dürfte einiges Gerede hervorrufen. Ja, vielleicht sogar, wenn ich das sagen darf, gewisse Wellen schlagen.»
«Schon gut», sagte ich. «Es macht mir nichts aus, noch ein paar Tage damit hinterm Berg zu halten. Wie Sie meinen.»
Seine Fingerspitzen tippten jetzt nervös gegeneinander, als ob ihn meine Anwesenheit in seinem Büro beunruhigte. «Und dürfte ich fragen, ob Sie länger in Wien zu bleiben gedenken?»
«Nicht sehr lange», sagte ich. «Ich habe noch etwas Privates zu erledigen. Nichts, was Sie beträfe. Danach fahre ich wahrscheinlich gleich nach Garmisch zurück.»
Er lächelte auf eine Art, die mich an einen kleinen Steinbuddha erinnerte. «Ah, Garmisch», sagte er. «So ein hübsches, altes Städtchen. Meine Frau und ich, wir waren zur Winterolympiade dort, ’sechsunddreißig.»
«Haben Sie Hitler gesehen?», fragte ich und schaffte es endlich, meine Pfeife zum Brennen zu kriegen.
«Hitler?»
«Sie erinnern sich doch sicher? Bei der Eröffnungszeremonie?»
Das Lächeln blieb, aber er stieß jetzt einen Seufzer aus, als ob er ein kleines Ventil an seinen Gamaschen nachreguliert hätte. «Wir waren nie sonderlich politisch, meine Frau und ich», sagte er. «Aber ich glaube, wir haben ihn gesehen, wenn auch von sehr weit weg.»
«War auch sicherer so», sagte ich.
«Das scheint alles so lange her», sagte er. «Wie ein anderes Leben.»
«Dr. Jekyll und Mr. Hyde», sagte
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