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Das Jesus Video

Das Jesus Video

Titel: Das Jesus Video Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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Rost zerfressen, aussah, als könne es jederzeit herabstürzen und einen erschlagen. Von den eisernen Läden vor vielen Fenstern und Türen blätterte die frühere Farbe schäbig ab.
    Stephen sah zahllose Kinder. Stumm und scheu hingen sie in dichten Trauben an den Rockzipfeln ihrer Mütter, wenn sie, die beiden Fremden, vorübergingen, und sahen ihnen mit abgrundtief melancholischen Augen nach. Ihre Mütter, die oft schon den nächsten Familienzuwachs austrugen, schleppten sich elend dahin mit ihren Einkäufen oder der Wäsche, die sie auf Leinen spannten, die sich endlos kreuz und quer über die Straßen zogen. Die größeren Buben hatten kurze schwarze Hosen an und lange Strümpfe, standen aber nur bleichwangig herum und sahen schon aus wie erschöpfte alte Männer. Kinderlärm drang nur hier und da aus düsteren Fenstern, hinter denen, wie Yehoshuah halblaut erklärte, Thoraschulen betrieben wurden, und tatsächlich waren es auch nicht die Stimmen spielender Kinder, sondern Kinderstimmen, die im Chor heilige Schriften lasen.
    Die alten Männer, die gebückt dahinschlurften, mancher ein Netz mit zwei Orangen oder einem Brotlaib darin in der Hand, trugen malerische weiße, strubbelige Barte und dicke schwarze Mäntel und strömten einen unbeschreiblichen Körpergeruch aus: Das Gebot sittsamer Kleidung schien nicht zu fordern, die sittsame Kleidung auch regelmäßig zu waschen. Richtig erschreckend fand Stephen aber den Anblickjüngerer Männer, die ihnen begegneten und von denen bisweilen eine erschreckende Ausstrahlung von Erbarmungslosigkeit ausging. Zuerst schob er es auf ihre bizarre Kleidung, die langen schwarzen Kaftane und breitkrempigen Hüte, unter denen lange Schläfenlocken herabhingen. Aber viele trugen einen normalen schwarzen Anzug, einen Pullover darunter und einen Hut auf dem Kopf, und ließen sich ihr Gesicht von einem wilden Bart zuwuchern — doch hinter dicken Brillengläsern funkelten ihre Augen genauso unerbittlich. Diejenigen, die sich noch nicht hinter einem biblischen Bart verstecken konnten, offenbarten einen säuerlichen, wehleidigen Gesichtsausdruck, und das Blut unter ihrer wächsern schimmernden Haut schien langsamer zu fließen und kälter zu sein als von der Natur vorgesehen. In diesen Straßen schienen alle wild entschlossen, sich in Karikaturen ihrer selbst zu verwandeln, und sie schienen zudem bemüht, ihre Umgebung so zu gestalten, daß ihnen einmal niemand würde nachsagen können, sie hätten sich des Lebens gefreut.
    »Bist du sicher, daß dein Vater zu Hause ist?«fragte Stephen, unwillkürlich mit gedämpfter Stimme.
    Yehoshuah nickte.»Er geht niemals irgendwohin.«
    Sie gelangten auf einen vergleichsweise leeren Platz, der ursprünglich mit weißen Steinen gepflastert, inzwischen aber mehrfach mit kunstlosem Beton ausgebessert worden war. Endlose Wäscheleinen spannten sich darüber, und der Anblick einer Reihe von geblümten Unterhosen, zweifellos die von Frauen, kam Stephen in der Atmosphäre puritanischer Moral, die Mea Shearim ausstrahlte, geradezu frivol vor.
    Vor einigen der Häuser standen behelfsmäßig aussehende, aber auch schon reichlich alt wirkende Anbauten aus mehr oder weniger unbeholfen zusammengenagelten Brettern, die das ihre zu dem slumartigen Gesamteindruck beitrugen. Es roch immer noch streng nach Kohl und Essig und angebrannter Milch und hundert anderen Dingen, die Stephen gar nicht so genau identifizieren wollte. Er folgte Yehoshuah, der zielstrebig auf eine Treppe zuhielt, die zwischen zwei der Bretterbauten auf eine Galerie hochführte, die über die ganze Breite des Platzes hinweg mehrere der schmalen, baufälligen Häuser verband und ihre oberen Geschosse zugänglich machte. Alles, was an Errungenschaften aus diesem Jahrhundert übernommen worden war, war nachträglich hinzugefügt worden: Wasserleitungen, Stromkabel und Abwasserrohre, alles verlief auf den Außenwänden, mitunter abenteuerlich um Fensterbögen oder Türausschnitte herumgeführt.
    Sie betraten einen dunklen Durchgang. Yehoshuah klopfte an eine schmale, kaum erkennbare Tür. Von drinnen war eine Stimme zu hören. Er drückte die Klinke und schob die Tür auf, die sich nur widerstrebend und unter erbärmlichem Quietschen öffnen ließ.
    Der Raum dahinter lag ebenfalls im Dunkeln, abgesehen von einer einzigen, mageren Glühbirne im Schirm einer Lampe, die auf einem Tisch stand und ein Buch erhellte und die Hand, die es offenhielt. Ansonsten waren nur Umrisse zu erahnen — ein Bett,

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