Das Jesus Video
eigentlich? fragte Stephen sich irgendwann, und die Frage wollte ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen, während er weiter hinaufstieg, stellte sich selber wieder und wieder und wurde bald so etwas wie ein Mantra, wurde zu dem Rhythmus, in dem seine Beine sich bewegten, und seine Ohren glaubten diese Frage aus den zischelnden Geräuschen herauszuhören, die seine Füße auf dem Geröll verursachten.
Judith, bei weitem die fitteste von ihnen, ging unermüdlich voraus, Stephen versuchte vergeblich mitzuhalten, und Yehoshuah fiel immer weiter zurück, schimpfend und murrend, und mußte immer öfter Pausen einlegen.
Doch dann waren sie oben. Standen keuchend vornübergebeugt, die Arme auf die Knie gestützt, und konnten es kaum glauben. Eine Zeitlang hatte es so ausgesehen, als habe der Bau überhaupt keine Verbindung zur Außenwelt, als hätten sich die Mönche einst darin eingemauert, aber im letzten Augenblick war eine schmale, kaum mannsbreite Luke sichtbar geworden, die durch eine schwere Bohlentür aus uraltem Holz verschlossen wurde.
»Schaut nur«, meinte Judith, die als erste wieder aufrecht stehen und reden konnte.»Was für eine Aussicht.«
Stephen konnte nichts erwidern, nur mühsam den Kopf heben. Ja, tolle Aussicht. Klar doch. Schwarze Felsen, braune Felsen, graue Felsen, so weit das Auge reichte Steine und Felsen. Keine menschliche Ansiedlung, weit und breit niemand. Eine einzige grandiose Platzverschwendung.
»Und jetzt?«fragte Yehoshuah, als sie alle wieder normal atmeten.
»Jetzt«, sagte Stephen,»klopfen wir höflich an.«
Und genau das tat er. Es gab natürlich keine Türklingel und keinen Türklopfer oder ähnlichen neumodischen Schnickschnack, also hieb er mit der geballten Faust kräftig gegen das solide Portal. Dann trat er einen Schritt zurück und wartete.
Nichts geschah.
»Keiner zu Hause«, kommentierte Yehoshuah.
Stephen klopfte noch einmal, noch kräftiger diesmal, und rief so laut er konnte:»Hallo? Ist hier jemand?«
Nichts rührte sich.
»Wenn tatsächlich niemand mehr lebt dort drinnen«, überlegte Judith,»müssen wir über die Mauer steigen.«
»Ja«, nickte Stephen. Er musterte den Bau. Das Gebäude war ungefähr rechteckig angelegt, und die Umfassungsmauern waren an die drei Meter hoch. Höchstens vier. Zur Not mußten die irgendwie zu erklimmen sein.
Ein Seil. Sie hätten daran denken sollen, ein Seil mitzubringen.
»Vielleicht sind wir einfach außerhalb der Öffnungszeiten gekommen«, meinte Yehoshuah.»Ich meine, vielleicht beten sie alle gerade oder…«
»Dann könnten sie ja wenigstens ein Schild raushängen«, knurrte Stephen, nahm einen Stein auf und trat wieder an die schwarze Tür, um sich ein drittes Mal bemerkbar zu machen.
Doch gerade als er die Hand heben wollte, um den Stein wuchtig gegen das Holz zu schmettern, löste jemand von innen die Verriegelung des Gucklochs. Die Klappe ging auf, zwei alte, müde Augen sahen heraus, um sie mißtrauisch zu mustern, dann sagte der Mann, dem die Augen gehörten:»Geht!«
Nur dieses eine Wort, dann schloß sich die Klappe wieder, und die Verriegelung glitt mit einem schleifenden Geräusch zurück an ihren Platz.
»Das ist ja ein Ding«, murmelte Stephen fassungslos.
»Hey!«schrie er dann über die Mauer.»Wir sind gekommen, um den Spiegel zu sehen, der das Abbild Jesu bewahrt hat!«
Die finstere Mauer ragte vor ihnen auf wie das Bollwerk einer mittelalterlichen Festung und blieb stumm und unergründlich.
»Wahrscheinlich hat er das nicht verstanden«, sagte Yehoshuah.
»Wieso?«fragte Stephen.»Gerade hat er noch Englisch gesprochen.«
»Na ja«, meinte Judith.»Er hat Leave! gesagt. Übermäßig viel Englisch ist das nicht.«
»Also gut. Dann wiederhol es noch mal auf Hebräisch.«
In diesem Moment waren wieder Geräusche hinter der Tür zu hören, andere, ernsthaftere. Ein anderer, größerer Riegel wurde in seiner Halterung bewegt, etwas klapperte, ein metallener Ring vielleicht, dann begann jemand von innen zu zerren. Die Tür klemmte, die Balken, aus denen sie vor Jahrhunderten gezimmert worden war, ächzten, dann öffnete sie sich mit einem jammervollen Quietschen.
Zwei alte Männer standen dahinter, ausgemergelte, ungewaschene Eremiten, barfuß, die mageren Körper in fadenscheinige Gewänder gehüllt, die vor Jahrzehnten einmal schwarz gewesen sein mochten. Auf den ersten Blick sahen sie aus wie Insassen eines Gulags, elende Überlebende eines Konzentrationslagers. Doch in ihren Augen lag ein
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