Das Jesus Video
der Mitte des Bildes, die Altstadt von Jerusalem im Hintergrund. Ein Bild, wie es wahrscheinlich auf unzähligen Reiseführern abgebildet war.
»Ich muß Ihnen«, polterte Professor Goutiere los,»etwas über den Tempelberg erzählen. Oder, falls Sie es bereits wissen, es Ihnen wieder ins Bewußtsein rufen.«
»Wozu das?«wollte Kaun wissen.
»Das werden Sie gleich sehen. Sie wissen sicher, daß es einem Juden verboten ist, den Tempelberg zu betreten — aber wissen Sie auch, warum?«Er wartete eine eventuelle Antwort nicht ab.»Man denkt gemeinhin, die Moslems hätten es ihnen für alle Zeiten verboten, als sie 632 die Stadt eroberten, aber das stimmt nicht. Es ist ihre eigene Überlieferung, die es ihnen verbietet. Denn der Tempelberg ist, wie wir wissen, die Ruine des herodianischen Tempels — also des Tempels, in dem Jesus von Nazareth verkehrte, anbei bemerkt -, der wiederum errichtet worden war auf der Ruine des salomonischen Tempels, von dem im Alten Testament die Rede ist und der ein unglaublich kolossales Gebäude gewesen sein muß. Weil man nun heute nicht mehr genau weiß, wo sich auf dem Gelände des Tempelbergs das Allerheiligste befand, das zu betreten jedem Menschen, mit Ausnahme des Hohepriesters, bei der Strafe des Todes und der ewigen Verdammnis verboten ist, betritt der gläubige Jude den Berg vorsichtshalber überhaupt nicht.«
Er wälzte sich unruhig in seinem Sessel umher, als hätte er noch keine Position gefunden, in der es sich aushaken ließ.»Die Historiker sind sich übrigens ziemlich sicher«, fuhr er fort,»daß sich das Allerheiligste ungefähr da befunden haben muß, wo heute der Quait-bay-Brunnen ist, etwas südwestlich des Felsendoms.«
»Und?«machte Kaun, dem ebenso wie den anderen unklar war, worauf der Kanadier hinauswollte.
»Das Bemerkenswerte am Tempelberg ist«, fuhr Goutiere mit schwerer Zunge fort,»daß er sowohl für die Juden wie auch für die Moslems ein Heiligtum ist. Die Juden erwarten hier dereinst das Erscheinen des Messias, und für die Moslems ist er das drittheiligste Heiligtum nach Mekka und Medina, weil von hier aus einst Mohammed für einen Tag in den Himmel entrückt worden sein soll. Bei ihnen heißt es Haram esh-Sharif, übersetzt etwa» das vornehme Heiligtums«Er hielt inne und betrachtete eine Weile selber den Umschlag des Bildbandes.»Und vornehm ist es, weiß Gott. Sie werden kein prächtigeres Bauwerk in ganz Jerusalem finden. Der Felsendom ist von einmaliger Schönheit — die Fayence-Verkleidungen der Außenwände, die Arabesken und Mosaiken der Kuppel… Er war das Vorbild für den Petersdom in Rom, wußten Sie das? Er ist selber beinahe überirdisch. Aber vor allem ist er ein Symbol, ein mächtiges politisches Symbol für den Islam. Denn Allah hat zu Mohammed gesprochen, weil die Religionen davor — das Judentum, das Christentum — ihre Aufgabe verfehlt hatten. Der Islam ist dazu berufen, die übrigen Religionen abzulösen. Daß auf dem Tempelberg die goldene Kuppel des Felsendoms und die silberne El-Aqsa-Moschee stehen, wird als sichtbarer Beweis dafür verstanden, daß der Islam diesen historischen Sieg errungen hat und die Muslime die wahren Erben des alttestamentarischen Gottesauftrags sind.«
Kaun nahm die Whiskyflasche, stellte sie zurück in den Kühlschrank und schloß dessen Tür vernehmlich.»Ich glaube«, sagte er dabei,»diese Zusammenhänge sind uns ungefähr bekannt, und soweit sie es nicht sind, interessieren sie uns höchstens theoretisch. Es sei denn, Sie erklären, welche Verbindung zu unserer Suche nach der bewußten Kamera Sie sehen.«
»Ah ja.«Goutiere legte den Bildband beiseite, drehte sich noch einmal in dem Sessel, der ihm offensichtlich mehr als unbequem war, und suchte ein paar Augenblicke nach einem geeigneten Anfang.»Wenn Ihre Theorie stimmt, was diese Kamera anbelangt und den kühnen Kamikazeforscher, der damit in absehbarer Zeit in die Vergangenheit reisen wird, um Jesus Christus zu filmen…«- er sah dabei ausgerechnet Eisenhardt an, als sei er der entschiedenste Vertreter dieser Deutung -»Ah, wir können es doch so herum aufdröseln: Vielleicht kommt eines nicht allzu fernen Tages ein junger Mann zu mir und fragt mich, wo man einen Gegenstand in Palästina im, sagen wir, Jahre 35 verstecken müßte, um ganz sicher sein zu können, ihn dort zweitausend Jahre später auch unbeschädigt wiederzufinden. Nicht wahr, das ist doch die Frage, die wir uns hier im Grunde auch stellen?«
Kaun
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