Das Jesusfragment
Sophie griff nach meinem Arm und zerrte mich mit zu den Schaltern.
Wir gingen unter der großen Anzeigentafel hindurch. Es wimmelte von Menschen, die in alle Richtungen drängten. Reisende, die auf ihren Koffern saßen und warteten, und verschiedene Leute, die auf den Bahnsteigen standen, um jemanden abzuholen. Einige musterten uns, als wir schweißgebadet und nach Atem ringend an ihnen vorbeikamen. Doch in einem Bahnhof bekam man schnell seine Anonymität zurück. Je mehr wir uns dem Schalter näherten, desto weiter verschwand Badji aus unserem Blickfeld. Ich drehte mich regelmäßig nach ihm um, aber plötzlich hatte ich ihn aus den Augen verloren.
Wir stellten uns an einen Schalter in der langen Reihe abgetrennter Glasscheiben, und Sophie beugte sich über die Sprechmuschel.
»Bitte dreimal hin und zurück für den nächsten Eurostar.«
Ich drehte ihr den Rücken zu, stützte mich auf den Tresen und ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Ich machte mich darauf gefasst, dass jeden Moment die beiden Raben zwischen den grünen Säulen oder hinter den riesigen Blumenkübeln vor dem Zeitungsstand hervorkommen würden. Aber nein. Sie waren verschwunden. Badjis Plan, so schien es, hatte funktioniert.
Ich war noch damit beschäftigt, die Menschenmenge zu beobachten, als Sophie meine Schulter berührte.
»Abfahrt in zwanzig Minuten«, sagte sie und zeigte mir die Fahrkarten. »Morgen fahren wir zurück. Wir müssen uns beeilen.«
»Wunderbar. Los, holen wir Badji ein.«
Ich wollte mich gerade umdrehen, als ich plötzlich die Panik in Sophies Blick bemerkte. Sie wirkte, als stünde sie unter einem Elektroschock. Ich hatte nicht einmal mehr Zeit, sie zu fragen, was geschehen war, als sie nach meiner Hand griff und mich in die entgegengesetzte Richtung zerrte. Mir stockte der Atem, aber instinktiv lief ich sofort hinter ihr her.
Sophie warf eine etwa vierzigjährige Frau um, ohne sich zu entschuldigen. Die Frau fiel zu Boden und ich musste über sie hinwegsteigen. Um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, hielt ich mich an der Kante des Schalters links von mir fest. Als ich mich wieder aufrichtete, warf ich einen Blick nach hinten. Und was ich sah, konnte mich nicht mehr überraschen. Der Rabe war nicht mehr weit von uns entfernt.
Sophie hatte einen kleinen Vorsprung. Ich zögerte kurz. Konnten wir ihm entkommen? Wie weit konnten wir fliehen? Aber wenn ich zurückzublieb, um ihn aufzuhalten, hatte ich keine Chance mehr. Diese Typen waren bereit zu töten. Das hatten sie uns bereits mehrmals bewiesen. Ich ballte die Fäuste und rannte los, um Sophie einzuholen.
Hinter uns begannen die Menschen, empört zu rufen. Der Rabe verhielt sich offenbar noch rücksichtsloser als wir. Sophie rannte vor mir her und hielt dabei die Fahrkarten fest in der Hand. Ab und zu warf sie mir einen flüchtigen Blick zu, um sicher zu sein, dass ich ihr folgte. Ich lief so schnell ich konnte, aber ich wusste nicht, wohin uns das führen sollte.
Der Fahrer eines langen Elektrokarrens hupte, als er sah, dass wir direkt auf ihn zuliefen, aber Sophie verringerte ihr Tempo nicht. Sie beschleunigte sogar ihre Schritte und rannte vor den Karren, ohne den fassungslosen Chauffeur auch nur anzuschauen. Plötzlich machte sie eine scharfe Drehung nach links und verschwand hinter einer der großen Glastüren am Ausgang des Bahnhofs. Ich war ihr so dicht auf den Fersen, dass der kühle Luftzug von draußen mein Gesicht streifte. Der Rabe kam immer näher und war nur noch wenige Schritte entfernt. Ich wartete eine Sekunde, und als er schon fast hinter mir war, knallte ich ihm die Tür mit voller Wucht ins Gesicht. Das verschaffte uns eine kurze Atempause. Ich rannte auf den Gehweg, aber ich wusste, dass er sich bald wieder aufrappeln würde.
Inzwischen war es dunkel geworden, aber auf der Straße herrschte noch Hochbetrieb. Sophie eilte auf den Eingang einer Unterführung zu. Keine gute Idee, dachte ich, hatte aber nicht die Zeit, sie davon abzubringen. Sie stolperte die Stufen hinunter, und ich lief ihr einfach hinterher. Das Licht in der Unterführung war sehr spärlich, und nachdem ich einige Stufen weitergesprungen war, erkannte ich, dass sie gesperrt war. Am Ende der Treppe gab es drei verschlossene Türen. Wie ich bereits befürchtet hatte. Sophie verlangsamte ihre Schritte.
»Scheiße!«, rief sie.
Ich blieb mitten auf der Treppe stehen. Sophie wandte sich um. Ich brauchte sie nur anzuschauen, um zu wissen, was hinter meinem Rücken
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