Das Jesusfragment
zum Hotelparkplatz zurück und kurze Zeit später fuhren wir durch die Pariser Innenstadt. Auch wenn ich lieber mit dem Motorrad durch Paris gefahren wäre, machte es mir Spaß, die breiten Straßen hinunterzufahren, am Ufer entlang, über die Brücken. Ich fuhr ohne nachzudenken, von einem unsichtbaren Geist getrieben. Wir ließen uns von Bachs Johannespassion einlullen, die im Radio übertragen wurde, und weder Badji noch ich hatten das Bedürfnis, miteinander zu reden. Wir waren Gäste in Paris, eine kleine Bleikugel, die in den Bahnen dieses großen Flipperautomaten rollte.
Straßen und Häuser glitten an uns vorüber, Ampeln schalteten auf Grün, ich verlor mich in einem süßen Traum. Plötzlich wurde mir klar, dass ich den Wagen geparkt hatte. Fast ohne Absicht.
»Was tun Sie denn?«, fragte Badji beunruhigt.
Ich wandte den Kopf nach links. Ich erkannte die lange Mauer neben mir. Es war die Friedhofsmauer vom Montparnasse. Welch kühner Geist hatte mich hierher getrieben?
»Stéphane«, sagte ich, »ich denke, wir sollten zum Grab meiner Eltern gehen.«
Ich hielt inne und wunderte mich über meine eigenen Worte.
»Macht es Ihnen etwas aus?«, fragte ich und betrachtete ihn verlegen.
»Keineswegs. Lassen Sie uns reingehen.«
Wir stiegen aus dem VW und steuerten auf den Haupteingang zu. Auf der schattigen Straße herrschte Stille. Erinnerungen wurden wach. Böse Erinnerungen. Ich wollte dennoch weitergehen. Wir traten durch das Friedhofstor und wandten uns gleich nach rechts. Nach wenigen Schritten blieb ich stehen und zeigte Badji das Grab von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir.
»Dieser Kerl hat mir in der Vorbereitungsklasse den letzten Nerv geraubt«, erklärte ich grinsend. »Ich habe nie begriffen, was der Existentialismus eigentlich soll.«
Stéphane klopfte mir auf die Schulter.
»Vielleicht gibt es gar nicht so viel daran zu begreifen.«
Ich ging weiter, die Hände in den Taschen vergraben. Wir gelangten zum Ende der Allee und schwenkten nach links. Mich fröstelte. Ich war erst zwei Mal auf diesem Friedhof gewesen. Das erste Mal, um meine Mutter zu beerdigen und dann, um meinen Vater zur letzten Ruhe zu betten. Heute war ich das erste Mal hier, ohne jemanden zu begraben. Nur um das Grab zu besuchen. Eine erste Pilgerreise. Das sah mir gar nicht ähnlich. Ohne Badji an meiner Seite wäre ich vermutlich umgekehrt. Wie ein Angsthase. Aber seine Anwesenheit beruhigte mich, und ich wäre mir blöd vorgekommen, auf halbem Weg umzudrehen.
Wir gingen an einer langen Reihe von Gräbern vorbei. Zur Linken entdeckte ich Baudelaires Grab. Seine Werke haben mich nie genervt. Unwillkürlich erinnerte ich mich an seine Verse aus Spleen:
»Mir ist, als lebte ich schon über tausend Jahr.
Nie barg ein alter Schrein, so überfüllt er war
Mit Rechnungen und Akten, Versen und Briefen,
Mit Locken, die verwahrt in Scheinen schliefen,
So viel geheimes Leid wie längst mein Hirn es barg.
Das ist ein Riesenbau, ein ungeheurer Sarg,
Ist eine Gruft, die zu viel Tote fasst.
Ich bin ein Kirchhof, den das scheue Mondlicht hasst,
Durch den die Würmer ziehn, Reu und Gewissensqual,
Zernagend meiner liebsten Toten Mal.«
Ich seufzte. François und ich hatten Baudelaire lange Zeit in aller Naivität verehrt, und mit der Arroganz junger Gelehrter ging es uns darum, die meisten Verse auswendig zu können, um damit im Kreise unserer Mitschüler zu glänzen. Wir machten uns wirklich zu Narren! Aber diese Verse hatte ich nie vergessen. Diese Verse taten mir gut. Sie hatten mich in meinem tiefsten Inneren berührt und berührten mich erst recht, wenn ich sie aufsagte.
Schließlich standen wir vor dem Grab meiner Eltern. Ich gab Badji ein Zeichen, dass wir angekommen waren. Es fiel mir schwer, das dämliche Grinsen aus meinem Gesicht zu verbannen. Es war stärker als ich.
Ich schämte mich, weil ich hierher kommen wollte.
Ich stand aufrecht vor dem Grab und faltete automatisch die Hände. Es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren. Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Aber ich stelle mir die Frage nicht, das ist praktischer. Meine eigenen Worte klangen wie ein Motto.
Ich konnte Badji nicht sehen, der sich im Hintergrund hielt, aber ich spürte seine Anwesenheit. Vielleicht dachte er, dass ich betete. Das taten gläubige Menschen nun einmal. Aber ich stelle mir die Frage nicht, das ist praktischer.
Und dort, reglos vor dem Grabstein, sagte ich mir, dass ich keine göttliche Gegenwart spürte. Ich war einfach
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