Das Jesusfragment
meinem Kopf Klick machte. Sie zündete sich eine Zigarette an.
»Was soll dieser ganze Unsinn?«, stammelte ich schließlich. »Und was soll das heißen, ist alles schief gelaufen?«
»Ein Wagen, der um zwei Uhr morgens aus der Kurve getragen wird, seltsame Typen, die hier Tag und Nacht herumlungern, Unterlagen, die verschwinden, so etwas nenne ich schief laufen. Ganz zu schweigen von der Beule auf Ihrer Stirn. Die Ihnen übrigens hervorragend steht.«
Sie schwieg und musterte mich mit herausfordernder Miene. Vielleicht war ich etwas zu voreilig gewesen. Wir waren nicht im Begriff, miteinander zu reden, wir waren im Begriff miteinander zu kämpfen. Und eine innere Stimme sagte mir, dass ich bei diesem Spiel wenig Chancen hatte, zu gewinnen.
Dennoch wollte ich sie so weit bringen, dass sie mir alles in Ruhe erzählte, auch wenn ihre Geschichte noch so verrückt klang.
»Wie heißen Sie?«, fragte ich schließlich.
Sie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette und stieß lächelnd den Rauch aus. Sie war nicht auf den Kopf gefallen. Ich glaube, sie wusste ganz genau, was ich durchmachte, seit sie mich von der Straße aufgelesen hatte. Durchblick gehört zweifellos zu den wichtigsten Fähigkeiten einer Journalistin. »Sophie de Saint-Elbe«, erwiderte sie und streckte mir die Hand hin.
De Saint-Elbe? Mia Wallace passte viel besser zu ihr.
Ich lächelte ebenfalls und drückte ihr die Hand.
»Hören Sie, Madame de Saint-Elbe …«
»Mademoiselle«, korrigierte sie und tat, als sei sie beleidigt.
»Mademoiselle, ich hätte jetzt doch gern einen Tee. Er duftet gut.«
Sie nickte.
»Das ist Darjeeling. Ich trinke keinen anderen. Mit Tee ist es ein bisschen wie mit Tabak. Man gewöhnt sich schnell daran. Ich kann auch nichts anderes rauchen als meine Chesterfield.«
Sie drückte ihre Zigarette in einem Aschenbecher aus und erhob sich langsam. Dann streifte sie sich, ohne sich zu bücken, nacheinander die Schuhe ab, trat an den Beistelltisch und goss eine Tasse Tee für mich ein. Jede ihrer Bewegungen war von einer eigenartigen Sinnlichkeit. Ihre Art, behutsam die Brille mit dem Zeigefinger hochzuschieben, ihre Art zu rauchen, ihr Gang. Sie besaß den Körper einer jungen Großstädterin und die lasziven Gesten einer alten pensionierten Schauspielerin, eines ehemaligen Pin-up-Girls. Eine sichere Mischung, was ihre erotische Wirkung anging, aber aus einer vollkommen anderen Zeit.
»Ich verstehe sehr gut, dass es Ihnen schwer fällt, mir zu glauben«, fuhr sie fort. »Ich hielt Ihren Vater anfangs auch für einen liebenswürdigen Spinner. Nehmen Sie Milch?«
»Ja, gern.«
Sie ließ den Tee ein wenig ziehen, bevor sie etwas Milch hinzufügte. Dann holte sie eine neue Zigarette aus der Packung, schob sie sich in den Mundwinkel und brachte mir die Teetasse, ohne ihre Zigarette anzuzünden. Dabei hielt sie ihren Kopf kerzengerade, hatte die Lippen zusammengekniffen und die Hände in den zu langen Ärmeln ihres Pullovers vergraben. Ihre Haltung hatte etwas Theatralisches, als ob sie nichts dem Zufall überließe. Sie reichte mir meinen Tee, und ich richtete mich auf und lehnte mich an die Wand. Sie kehrte zu dem großen Sessel zurück und ließ sich im Schneidersitz hineinfallen.
Ich trank ein paar Schlucke. Der Tee war köstlich. Ihr Lächeln ebenfalls.
»Sophie, können Sie mir bitte alles etwas genauer erzählen?«
*
Ich sollte mich lange an den ersten Satz erinnern, mit dem sie mir die ganze Geschichte zu erzählen begann.
» Vor allem müssen Sie mir glauben, dass ich nicht weiß, welches Geheimnis Ihr Vater entdeckt hat. Aber eines ist sicher: Ich werde alles daran setzen, es herauszufinden.«
Ich sollte mich noch lange an diesen Satz erinnern, denn er fasste zusammen, wie sich mein eigenes Leben seit jenem Abend verändert hat.
Ich war nicht nur wegen meines Vaters nach Frankreich gekommen, ich wollte die Weichen neu stellen. Was die Journalistin mir zu berichten hatte, war sicherlich nicht das, was ich mir vorgestellt hatte, aber ich gehöre nicht zu den Menschen, die sich dauernd beklagen.
Vor einem Jahr hatte sich also mein Vater an Sophie de Saint-Elbe gewandt, weil er vermutete, dass sie sich für seine Geschichte interessieren könnte und dass sie kooperativ und diskret war. Darin hatte er sich nicht geirrt. Er hatte ihr offenbart, dass er eine fabelhafte Entdeckung gemacht habe, die seinen eigenen Worten zufolge zweifellos eine der größten der letzten zwanzig Jahrhunderte sei. Nicht mehr und
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