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Das Jesusfragment

Das Jesusfragment

Titel: Das Jesusfragment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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Frau.«
    »Estelle? Wie geht es ihr?«
    »Gut. Sie würde dich auch gern wiedersehen.«
    »Umarm sie von mir. Und sag ihr, dass ich ihr zu dem Baby gratuliere. Es dürfte inzwischen schon fast so weit sein. Wo wohnt ihr denn jetzt?«
    »Wir haben ein kleines Haus in Sceaux.«
    »Als Abgeordneter kannst du dir das leisten.«
    »Na ja, ehrlich gesagt, ist es eher Estelles Apotheke, die dafür aufkommt.«
    »Ich verstehe. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, hatte sie gerade ihr Abitur gemacht, und jetzt wird sie Mutter! Es ist unverzeihlich, dass ich so viele Jahre nicht mehr in Frankreich war.«
    »Und dieses Mal? Bleibst du?«
    Ich zögerte eine Sekunde, blickte mich in der Bar um.
    »Ich glaube ja.«
    »Dann bist du wirklich verliebt«, rief François am anderen Ende der Leitung.
    »Gute Nacht, François, und danke für alles.«
    Ich schaltete mein Handy aus. Es war gut, dass ich ihn angerufen hatte. Es gab mir Mut weiterzumachen. Eine zusätzliche Motivation. François, den Freigeist, wiederzusehen. Gegen zwei Uhr morgens bot mir der Barmann noch einen Whisky an, aber ich zog es vor, schlafen zu gehen.
    *
    Als ich mich am nächsten Morgen mit schwerem Kopf und trockener Kehle erhob, fand ich die Nachricht, die Sophie unter meine Tür geschoben hatte:
    »Ich verbringe den Tag im Beaubourg. Ich hoffe, heute alles zu Ende zu bringen. Viel Glück mit der Borella-Tochter. Küsse, Sophie.«
    Das war typisch für Sophies Telegrammstil. Ihre Küsse hätte ich lieber auf der Haut als auf dem Papier gehabt, aber der Tag begann trotzdem nicht so schlecht.
    Ich nahm mir Zeit, um im Hotel zu frühstücken und fuhr mit dem Taxi zum Anfang der Rue de Vaugirard, jenseits der äußeren Boulevards, in der Claire Borellas Wohnung lag. Die Rue de Vaugirard ist die längste Straße in Paris. Und in diesem Abschnitt auch die unpersönlichste. Eine Aneinanderreihung typischer Pariser Wohngebäude, hie und da ein paar Läden, nichts Faszinierendes. Eine graue Straße, wenig belebt und ohne jeden Glanz.
    Es war gegen zehn Uhr morgens, als ich an der Sprechanlage der Toreinfahrt klingelte. Meine Chancen, Claire Borella anzutreffen, standen eher schlecht. Tatsächlich meldete sich niemand.
    Ich beschloss, mich in ein Café auf der gegenüberliegenden Seite des Gebäudes zu setzen und zu warten. Es war eine dieser kleinen unnachahmlichen Kneipen, die es nur in Frankreich gibt. An der Schaufensterscheibe klebten Werbeplakate für Frauenmagazine, die Bar hatte ein rotes Vordach mit den Markenzeichen verschiedener Biere, ein paar runde Tische auf dem Gehweg, und am Zeitungsständer hing Le Parisien . Im Inneren gab es Aschenbecher, Spiegel, Kupfergeschirr, Garderobenständer, eine Ecke für den Zigarettenverkauf, eine Auslage von La Française des Jeux, Tische aus Sperrholz, die im großen Innenraum nebeneinander standen, eine Metalltheke, an der die Stammgäste herumlungerten, laut redeten und die Besitzerin beim Vornamen nannten und im Untergeschoss die schmutzigsten Toiletten der ganzen Welt. Über allem breitete sich der Gestank nach kaltem Rauch, das ständige laute Surren der silbernen Espressomaschine und die halblaute Musik von Europe 1 aus veralteten Lautsprechern aus.
    Ich machte es mir in einer Ecke direkt hinter dem Schaufenster bequem, trank ein paar Tassen Kaffe und beobachtete den Eingang des Gebäudes. Ein junger Mann betrat das Haus und verließ es eine Viertelstunde später wieder, eine alte Dame führte ihren kleinen Hund spazieren, aber ich entdeckte keine junge Frau, die Claire hätte sein können. Die Zeit verstrich.
    Ein Ehepaar – amerikanische Touristen – betrat das Café und versuchte, sich eher schlecht als recht mit dem Chef zu verständigen, dessen Englischkenntnisse dem Schulsystem unseres schönen Landes keine Ehre machten. Statt ihnen zu helfen, hörte ich ihnen vergnügt zu. Es gab sogar einen Moment, in dem der Barmann einen Witz erzählte, in Lachen ausbrach, weil er ihn so komisch fand, und die beiden Amerikaner mitlachten, um ihn nicht zu kränken. Dann wandte sich die Frau an ihren Mann und flüsterte auf Englisch: »Was hat er gesagt?« Der Mann murmelte: »Ich habe keine Ahnung!«, und lächelte dem Barmann weiterhin zu. Das war meine einzige Zerstreuung am Vormittag, und gegen Mittag, nachdem ich alle Papiere aus meiner Brieftasche herausgenommen und sie nacheinander sorgfältig wieder zurückgelegt hatte, begann ich wirklich, ungeduldig zu werden.
    In diesem Augenblick läutete mein Handy. Ich

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