Das Jesusfragment
unserer geheimnisvollen Unbekannten. Er verabschiedete sich, und Sophie versprach ihm, dass wir uns meldeten, sobald wir mehr wussten.
Wir verließen das kleine Internetcafé und kehrten zur Place de l'Etoile zurück. Dieses Viertel von Paris war immer belebt. Auf den Gehwegen schlenderten Passanten, in den Schaufenstern brannte Licht. Und man begegnete immer wieder anderen Gesichtern. Das erinnerte mich an New York.
Als wir in der Hotelbar landeten, war es bereits spät am Abend, aber ich entschied dennoch, Borellas Tochter anzurufen. Ungeduld trieb mich, alles über ihren Vater zu erfahren.
Nach mehrmaligem Läuten schaltete sich der Anrufbeantworter ein. »Hier ist Claire. Bitte hinterlassen Sie nach dem Piepton eine Nachricht.«
Ich zögerte. Der Vorteil eines Anrufbeantworters war, dass er nicht auflegen würde und dass die junge Frau meine Nachricht bis zum Ende abhören könnte. Ich wagte es.
»Guten Tag. Sie kennen mich nicht, aber ich glaube, ich weiß, weshalb Ihr Vater ermordet wurde und würde gern mit Ihnen darüber reden.«
Es machte erneut Klick und ich begriff, dass sie den Hörer abgenommen hatte.
»Hallo«, sagte eine weibliche Stimme.
Sie sortierte also ihre Anrufe vor.
»Guten Tag.«
»Wer sind Sie?«
»Ich würde meinen Namen lieber nicht am Telefon nennen, wenn es Sie nicht stört. Ich könnte Ihnen einen falschen Namen sagen, aber ich will aufrichtig sein.«
Sie schwieg.
»Wären Sie bereit, sich mit mir zu treffen?«, fragte ich.
»Nicht, wenn Sie mir nicht verraten, wer Sie sind.«
»Ehrlich, das kann ich nicht.«
Es machte wieder Klick, dann erklang das Freizeichen. Sie hatte aufgelegt.
»Scheiße«, schimpfte ich. »Soll ich es noch mal versuchen?« Sophie lächelte.
»Nein, keine gute Idee! Ich glaube, es wäre besser, Sie würden hingehen. Ich bin sicher, dass Sie live überzeugender wirken.«
»Ach ja?«
»Ja, und dann können Sie ihr auch Ihren Namen verraten.«
»Auf jeden Fall wissen der Bilderberg und Acta Fidei doch schon lange, wer ich bin. Warum also zerbreche ich mir deshalb den Kopf?«
Sophie stimmte mir zu.
»Es ist schon spät«, sagte sie. »Ich glaube, ich gehe jetzt schlafen.«
»Soll ich Sie begleiten?«, schlug ich vor.
»Ich denke, dass ich den Weg zu meinem Zimmer allein finde!«
Sie hauchte mir einen Kuss auf die Wange und ging auf ihr Zimmer. Ich stieß einen tiefen Seufzer aus.
An jenem Abend blieb ich mehrere Stunden in einem Sessel in der Hotelbar des Splendid sitzen. Ich bestellte einen Whisky, einen zweiten, dann bot mir der Barmann einen dritten an. Ich trank in aller Ruhe und ließ meine Gedanken schweifen. Mehrere Hotelgäste kamen an der in Rot und Gold gehaltenen Lounge vorbei, in der ich mich lümmelte. Ich machte mir einen Spaß daraus, mir vorzustellen, woher sie kamen, wie sie den Abend verbracht hatten, wer sie waren. Ich dachte mir Vornamen, Berufe und Liebesgeschichten für sie aus. Ich hatte einfach keine Lust, schlafen zu gehen, und ich fand die Hotelatmosphäre ideal für die seltsame Stimmung, in der ich mich befand. Eine Mischung aus Melancholie, Hoffnung, Angst und Liebe.
Am Ende des Abends hatte ich große Lust, François anzurufen. Ich musste unbedingt mit ihm reden. Seine Stimme hören. Ich kramte in meiner Brieftasche nach seiner Nummer und wählte sie auf meinem Handy.
»Hallo?«
Er war offensichtlich überrascht, so spät einen Anruf zu erhalten.
»François, ich bin's, Damien.«
»Damien! Du verdammter Kerl, seit zwei Tagen versuche ich, dich zu erreichen! Was hast du mit deinem Telefon gemacht?«
»Ich habe eine neue Nummer. Schreib sie dir lieber gleich auf. Es tut mir Leid, dass ich dich nicht benachrichtigt habe.«
»Wie weit bist du?«
»Es geht voran.«
»Willst du immer noch nicht die Polizei benachrichtigen?«
»Nicht sofort. Die Gendarmen sind sowieso auf dem Laufenden, mehr oder weniger«, spottete ich.
»Damien, du machst mir Angst. Was hast du dir da eingebrockt?«
»Aber du weißt noch nicht das Schlimmste«, sagte ich in vertraulichem Ton. »Ich habe mich in eine Lesbe verliebt.«
Einen Augenblick lang schwieg er. Ich konnte mir sein Gesicht vorstellen.
»Wie?«
Ich fing an zu lachen. Der Alkohol zeigte allmählich seine Wirkung.
»Nein, nichts, ich bin nur ein wenig betrunken«, gab ich zu.
»Damien, du fehlst mir. Sei vorsichtig, ich will dich heil und gesund wiedersehen, einverstanden?«
»Ja, mach dir keine Sorgen, Alter. Habe ich dich geweckt?«
»Mich nicht, aber meine
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