Das Jesusfragment
schaute auf das Display, erkannte Sophies Nummer und betätigte die Sprechtaste.
»Damien, ich bin's. Wissen Sie was Neues?«
»Im Augenblick nicht. Und Sie?«
»Es geht voran. Aber Sie müssen Ihren Freund Chevalier anrufen.«
»Ich habe gestern Abend mit ihm telefoniert.«
»Wunderbar. Rufen Sie ihn noch mal an.«
»Warum?«
»Es besteht eine Verbindung zwischen dem Stein von Iorden und den Freimaurern, aber ich weiß noch nicht, welche.«
»Das fehlte gerade noch.«
»Sie hatten mir doch erzählt, dass er Freimaurer ist, oder?«
»Ja. Welche Verbindung?«
»Ich sagte doch, ich weiß es nicht. Aber ich habe gerade ein neues Stück von den Notizen Ihres Vaters verstanden. Er stellt eine Verbindung zwischen der Geschichte des Steins von Iorden und der französischen Loge Groß-Orient her. Ich habe keine Zeit, weiter zu forschen, weil ich hinter einer anderen Sache her bin, aber Ihr Freund weiß vielleicht etwas darüber.«
»Okay, ich werde ihn anrufen.«
»Viel Glück.«
Dann legte sie auf. Sofort wählte ich die Nummer von François.
»Hallo?«
»Ich bin's, Damien.«
»Alles in Ordnung?«
»Ja.«
»Trotz gestern Abend.«
»Ja, es geht, aber ich muss dich sehen. Wir müssen über etwas reden. Nicht am Telefon.«
»Ist es dringend?«
»Alles wird im Moment dringend.«
»Wo bist du?«
»Im fünfzehnten Arrondissement. Aber ich muss vorher noch etwas erledigen.«
Er zögerte.
»Gut, ich schicke dir Badji.«
»Wen?«
»Badji. Er ist ein Freund, der als Sicherheitsbeamter gearbeitet hat. Ein Bodyguard, der gerade seinen eigenen Laden aufgemacht hat. Er hat oft auf mich aufgepasst und ist vertrauenswürdig.«
»Du schickst mir einen Wachhund?«
»Ja. Bei deinen Geschichten bin ich mir nicht sicher. Ich wäre sehr froh, wenn er dich begleitet. Wenn du das, was du erledigen willst, noch nicht fertig hast, wird er auf dich warten. Dann bringt er dich zu mir. Einverstanden?«
»Prima«, sagte ich dankbar.
Ich gab ihm Borellas Adresse und beendete das Gespräch. Ich war froh, dass ich mich so wie früher auf ihn verlassen konnte. François war jemand, der seinen Freunden nie etwas abschlagen konnte. Gab es eine bessere Art, eine Freundschaft zu führen?
Ich wollte gerade noch einen Kaffee bestellen, als ich eine junge Frau entdeckte, die auf den Hauseingang zusteuerte. Ich legte einen Geldschein auf den Tisch, stürzte hinaus und hätte beinahe einen Stuhl umgeworfen.
»Claire«, rief ich von der anderen Straßenseite.
Meine Chancen standen eins zu zehn, dass sie es war.
Sie wandte sich um, eine junge Frau von ungefähr fünfundzwanzig Jahren, mit sehr kurz geschnittenem kastanienbraunem Haar, klein und etwas rundlich. Die Frau warf mir einen erstaunten Blick zu und versuchte, mich zu erkennen. Ich überquerte die Straße und erreichte sie vor dem Haus.
Sie hatte einen fahlen Teint, Ringe unter den Augen, ein paar rote Flecken im Gesicht und wirkte müde. Dennoch war sie ganz zauberhaft, besaß einen fein geschwungenen Mund und freundliche Augen. Da sie etwas mollig war, wirkten ihre Züge weich. Ihre viel zu weit geschnittenen Kleider verliehen ihr eine gewisse Lässigkeit, und ihr langer Seidenschal ließ sie sogar als anachronistisches Hippiemädchen durchgehen.
»Kennen wir uns?«, fragte sie und musterte mich.
»Gewissermaßen ja, Sie haben mich gestern Abend aus der Leitung geworfen.«
Sie seufzte.
»Ah, Sie sind das! Hören Sie, ich habe keine Lust, darüber zu reden!«
Sie wandte mir den Rücken zu und holte den Schlüssel aus der Tasche.
»Warten Sie! Geben Sie mir zumindest eine Chance. Ich habe den Mikrofilm Ihres Vaters in der Nationalbibliothek gefunden.«
Ihre Hand erstarrte wenige Zentimeter vor dem Türschloss. Einen Moment lang verharrte sie unbeweglich, dann drehte sie sich langsam zu mir um.
»Was haben Sie gefunden?«
»Den Mikrofilm Ihres Vaters. Mit dem Text über die Assayya.«
Plötzlich wurde sie nervös. Rasch schloss sie die Haustür auf und zog mich am Arm.
»Schnell, beeilen Sie sich!«
»Ich …«
»Pst«, flüsterte sie und gab mir ein Zeichen, den Mund zu halten.
Ich folgte ihr in die Eingangshalle, wir betraten einen winzigen Aufzug, und sie sagte kein Wort, bis sie die Tür ihrer Wohnung hinter uns geschlossen hatte.
Es war eine große Wohnung, typisch für die Häuser des 19. Jahrhunderts, die dieses Viertel ausmachen. Ein Fußboden aus knarrendem Holz, eine hohe, stuckverzierte Decke, große Glastüren, alte Möbel, Gemälde an den
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