Das Jesusfragment
bedeutet, und um seine Herrschaft zu festigen, beginnt er die Unterwerfung und Bekehrung der arabischen Halbinsel. Die Bewegung ist in Gang gebracht, es folgen der Irak, Syrien und Ägypten.«
»Und nun sind wir also wieder in Syrien!«, unterbrach ich sie.
»Genau! 636, also ungefähr sechshundert Jahre nachdem Petrus nach Antiochien gereist war, nimmt die Armee des Kalifen Abu Bakr ganz Syrien ein. 638 folgt Jerusalem. Wichtig ist, dass, den allgemeinen Vorurteilen zum Trotz, die Araber keine Barbaren waren, die auf ihren Feldzügen alles systematisch zerstörten. Im Gegenteil: Sie waren so intelligent, die eroberten Länder in ihr eigenes System einzugliedern, sogar auf hinreichend flexible Weise, damit es funktionieren konnte. Sie betrieben eine Art allmähliche Bekehrung. So wurden auch die Reliquien, die sie in Antiochien und Jerusalem fanden, nicht vernichtet. Manchmal bemächtigten sich die Kalifen dieser Schätze, aber sie ließen sie unangetastet, weil sie heilig waren. Es ist demnach sehr wahrscheinlich, dass der Stein von Iorden zu jener Zeit in den Besitz eines Kalifen gelangte und von einer Generation an die nächste weitergegeben wurde. Eines steht jedenfalls fest: Ende des achten Jahrhunderts befindet er sich im Besitz von Harun al-Rashid, zweifellos der bedeutendste Kalif der Abassidendynastie.«
»Und wie gelangte er von ihm zu Karl dem Großen?«
»Dazu habe ich meine eigene Theorie, aber ich konnte noch nicht alles überprüfen. Wenn alles gut geht, kann ich es Ihnen morgen sagen.«
»Na prima! Glückwunsch! Das ist aufregend!«
»Es ist nur eine Hypothese, aber um zu erklären, wie der Stein von Iorden von Jesus über Harun al-Rashid an Karl den Großen weitergegeben wurde, ist es die wahrscheinlichste Hypothese, denke ich.«
»Auf jeden Fall ist das Ganze unglaublich!«
»Das Erstaunlichste jedoch ist, dass keiner der jeweiligen Besitzer des Steins zu wissen schien, was er in Wirklichkeit bedeutete. Zumindest ist sich keiner bewusst, dass es sich um einen Schlüssel handelt, der eine Botschaft Christi entschlüsseln kann.«
»Wenn dem wirklich so ist«, dämpfte ich ihre Begeisterung.
»Natürlich. Aber wie dem auch sei, die Reliquie ist von einer außergewöhnlichen Aura umgeben. Jeder weiß, dass sie direkt von Jesus stammt, und jeder scheint ihr eine unvergleichliche Bedeutung beizumessen, als ob die aufeinander folgenden Besitzer diese Botschaft traditionsgemäß weitergegeben hätten. Vielleicht war Petrus selbst der Begründer dieser Tradition. Zweifellos hatte er den Christen in Syrien den unschätzbaren Wert dieser Reliquie offenbart.«
»Zweifellos«, stimmte ich zu.
Als wir die Entenleber verzehrt hatten, räumte die Kellnerin die Teller ab und kehrte kurz darauf mit dem Hauptgang und einer Flasche Pauillac zurück.
Draußen war die Nacht hereingebrochen. Die Stunden verstrichen, und wir waren völlig gefangen von unserer unglaublichen Suche. Wir fühlten uns jenseits der Welt, jenseits der Zeit. Ich fragte mich, wie dieses Abenteuer enden würde.
Wir schwiegen und widmeten uns vergnügt unserem feinen Mahl, kosteten vom Teller des anderen. Anschließend hatten wir keinen Appetit mehr auf ein Dessert und bestellten nur Kaffee.
»Sophie«, sagte ich, »morgen sind die achtundvierzig Stunden abgelaufen.«
»Wie bitte?«
»Erinnern Sie sich. Wir hatten vereinbart, uns achtundvierzig Stunden zu geben, um das Rätsel zu lösen, bevor wir die Bullen benachrichtigen.«
Sie stützte den Ellbogen auf den Tisch.
»Wollen Sie etwa aufhören?«, fragte sie und runzelte die Stirn.
»Nicht unbedingt. Aber ich muss gestehen, dass ich mir nicht besonders sicher dabei bin. Ich weiß nicht genau, wo alles hinführt. Versuchen wir, diese Geschichte zu begreifen oder …«
»Oder was?«
Ich konnte nicht glauben, was ich als Nächstes sagen wollte.
»Oder machen wir uns auf die Suche nach dem Stein von Iorden?«
»Wissen Sie, Damien, ich glaube, der Stein von Iorden würde nicht genügen. Er ist nur der Schlüssel, um die Botschaft zu entziffern.«
»Ja, aber würde das bedeuten, dass wir ihn suchen?«, beharrte ich.
Sophie musterte mich. Sie neigte den Kopf, als wolle sie meine Gedanken erraten.
»Was genau macht Ihnen Angst? Die Suche selbst oder die Möglichkeit, die Botschaft Christi zu entdecken?«
»Sind Sie sich eigentlich im Klaren darüber, was Sie da gerade gesagt haben? Sind Sie sich eigentlich bewusst, wie anmaßend es ist, die Botschaft finden zu wollen?«, fragte
Weitere Kostenlose Bücher