Das Joshua Gen (German Edition)
Mädchen.
Sie hielt jetzt den Blick auf das Kind gerichtet. Auf keinen Fall wollte sie noch einmal den pelzigen Teppich mit seinen zweihundert Augen zu ihren Füßen sehen. »Ist er ... ist Mister Woolrich hier?«, fragte sie nervös.
»Ich weiß nicht, ob das sein Name ist, aber der, der mal ein Polizist war, ist dort drin. Er hält Mittagsschlaf.«
»Du weißt, dass er Polizist war?!«
»Es steht im Deckel seiner Uhr. Er hat sie mir gezeigt. Sie ist kaputt wegen des Wassers.«
»Das Wasser vom Fluss?«
»Ja. Die Tunnelmenschen zogen ihn heraus.«
Margaret schaute auf die erbärmlichen Behausungen, errichtet aus dem Müll der Wohlstandsgesellschaft, eine letzte Heimat, ein Platz zum Schlafen, unter einem ewig grauen Himmel aus Beton. »Leben die Tunnelmenschen hier?«
»Nein, sie leben in Tunneln. Das hier ist doch bloß eine Tiefgarage«, betonte das Mädchen, als hätte es eine Erstklässlerin vor sich.
»Natürlich, natürlich ...« Margaret hatte schon davon gehört. Immer wieder gab es Berichte im Fernsehen. Ein paar tausend Menschen hausten in verlassenen U-Bahntunneln unter New York, viele davon in kleinen Stämmen mit eigener Kultur und Hierarchien.
»Ich lebe auch dort«, erklärte das Mädchen. »Hierher komme ich bloß wegen der Neuankömmlinge. Ich wähle die aus, die es wert sind, bei uns zu leben. Ich empfehle sie dem Rat. Sie werden hier auf die Dunkelheit vorbereitet. Es dauert einen Monat bis ihre Augen so weit sind.«
Mein Gott ... Es bedrückte die Anwältin. »Wie lange lebst du denn schon in den Tunneln?«
»Gebt endlich Ruhe da draußen! Ich schlafe hier!«
Aus den beiden großen Kartons hinter dem Zaun aus Leitern bewegte sich jemand heraus. Ein mürrischer Blick aus einem unrasierten Gesicht traf Margaret. »Sie? Was wollen Sie denn schon wieder?!«, keifte der alte Mann sie an. Auf allen vieren kroch er umständlich aus den Pappkisten. Schließlich richtete er sich ächzend auf.
Ihr Herz hämmerte. Stanley Woolrich lebte!
»Da, wo ich früher wohnte, lungerten Sie doch auch ständig rum – und jetzt rauben Sie mir hier den Schlaf!«
Seinen Ärger und den strengen Geruch aus seinem fleckigen Sweatshirt nahm Margaret kaum mehr wahr. Sie hatte ihren wichtigsten Zeugen gefunden! »Sie erinnern sich also an Ihr Haus?«, fragte sie aufgeregt. »Und was ist mit Pauline? Was ist mit Vince?!«
Der Obdachlose blickte die schlanke, blonde Frau in Jeans und Khakijacke zweifelnd an. »Welcher Vince?«
»Ja, welcher Vince?«, wiederholte das Kind mit den einhundert Ratten.
Sie überging die Frage. Ihre eigenen sprudelten heraus. »Wie war das mit dem Fluss? Ihre Uhr ging doch dabei kaputt. War da noch ein anderes Auto? Woran erinnern Sie sich, Stanley? Ich muss es wissen, ich muss!«, drängte sie ihn.
Er wich zurück. »Gehören Sie etwa zu denen?«
»Was? ... Nein!«
»Die verfolgten mich, die fuhren mir nach, die drängten mich in den Fluss ... Und Sie verfolgen mich auch!«
»Aber ich habe nichts mit dieser East-River-Sache zu tun, das müssen Sie mir glauben!«
Seine Augen wurden schmal.
»Woher kennen Sie dann den Namen des Flusses, der zu meinem Grab werden sollte?«, fragte er in das schwächer werdende Licht ihrer Lampe, und das kleine, schmutzige Mädchen an seiner Seite grinste. Dann stieß es drei hohe Pfiffe aus. Der Rattenteppich kam in Bewegung. Margaret wich zurück, doch die Tiere waren schon hinter ihr. Sie schlossen den Kreis um die Anwältin.
»Pfeif deine pelzigen Freunde zurück. Pfeif sie zurück, verdammt!« Ihre Stimme war schrill geworden. Sie umklammerte die alte Aktentasche vor ihrer Brust wie einen allerletzten Schutz.
»Woher wusstest du den Namen des Flusses?« Das Mädchen blickte streng.
»Vince erzählte mir davon. Er sah im Fernsehen den Bericht von Ihrem angeblichen Unfall, Stan.«
»Schon wieder dieser Vince ...«
»Sie kennen ihn, Stanley – Sie kennen ihn sehr, sehr gut!« Ihre Verzweiflung wuchs, nur zu deutlich stand das Misstrauen in seinem Gesicht ... Sein Gesicht! Natürlich! Margaret riss die Aktentasche auf und wühlte darin herum. Sie hatte doch sein Foto! Gerade hatte sie es dem Mädchen gezeigt. Jetzt war es verschwunden. Verdammt.
»Suchen Sie da etwa nach einer Waffe?«
»Nein, nein, ein Foto, Stanley – ich suche ein Foto!«
»Da liegt eins«, bemerkte das Mädchen, »vor deinen Füßen, du musst es nur aufheben.«
Margaret leuchtete über den Boden. Viele kleine Augenpaare reflektierten das Licht. Das Foto musste ihr
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