Das Jüngste Gericht: Die Wissenschaft der Scheibenwelt 4 (German Edition)
Vuh erzählt, dass das Universum vor dem Erscheinen der Erde ein riesiges Süßwassermeer war, über dem sich ein leerer Himmel ohne Sonne oder Sterne spannte. In dem Meer lebten die Schöpfer-Großeltern Xpiyacoc und Xmucane. Unten lag Xibalba, der Ort des Schreckens, das Reich der Götter Eins Tod und Sieben Tod. Die Götter des Meeres und des Himmels beschlossen, Menschen zu erschaffen, damit jene sie verehrten. Da solche Geschöpfe einen Ort zum Leben brauchten, erschufen die Götter die Erde, indem sie sie aus dem Urmeer emporhoben und mit Vegetation bedeckten.
Das war Maya-Kosmogonie: der Ursprung des Universums. In ihrer Kosmologie (Gestalt und Struktur des Universums betreffend) war die Erde eine flache Scheibe, hatte aber auch Aspekte eines Quadrates, dessen Ecken vom Auf- und Untergang der Sonne zur Sonnenwende festgelegt und dessen Seiten vier große mythische Berge waren. Es wurde der Gedanke geäußert, dass die quadratische Welt die Form eines Maisfeldes widerspiegelt. Ein Seil bildete einen schützenden Rand ähnlich dem »Umzaun« auf der Scheibenwelt, diente aber dazu, böswillige übernatürliche Wesen auszusperren. Jeder Berg war die Heimstatt eines Aspektes einer Großvatergottheit, deren Name unbekannt oder unsicher ist und den die Anthropologen »Gott N« nennen. Ihre Heimstätten konnten durch Höhlen erreicht werden, doch diese bildeten riesige Lücken in dem schützenden Rand, sodass das Böse eindringen konnte.
Als Nächstes wurde die Erde für den Maisanbau vorbereitet. Also richteten die Kinder und Enkel der Großeltern-Gottheiten, die nun auf der Erde lebten, die Sonne und den Wechsel der Jahreszeiten ein und brachten sie in Übereinstimmung mit den Bewegungen von Mond und Venus. Es gab zwei Kinder, Hun Hunahpu und Vucub Hunahpu. Der Erste heiratete Knochenfrau – das Buch sagt nicht, wie sie entstand (ebenso wie das erste Buch Mosis mitteilt, dass Kains Weib »im Lande Nod wohnte«, sich aber über die Schöpfung des Weibes ausschweigt). Als Knochenfrau starb, gingen Hun Hunahpu und Vucub Hunahpu in die Unterwelt und unterlagen den beiden Herren des Todes. Blutfrau, die Tochter eines Unterweltwesens, wurde vom Speichel aus Hun Hunahpus totem Kopf geschwängert und gebar Hunahpu und Xbalanque, die Heldenzwillinge. Ein Großteil der Geschichte handelt davon, wie die Zwillinge die Herren des Todes schließlich besiegen, wozu es der Unterstützung durch ihre Großeltern bedurfte. Xmucane bereitete einen Teig aus Mais und zermahlenen Knochen, aus dem die Schöpfer-Großeltern die ersten Menschen formten. Als sie ihre Tat vollbracht hatten, wurden die Heldenzwillinge zur Sonne und zum Vollmond.
Gott N wird oft mit einem Netzbeutel auf dem Kopf dargestellt. Eine seiner Erscheinungsformen war ein Opossum, eine andere eine Schildkröte. Ein beschrifteter Stein in Copán trägt seinen Namen »gelbe Schildkröte« in Form seines Bildes zusammen mit den phonetischen Zeichen für ak , was Schildkröte bedeutet. In seinem Schildkröten-Aspekt verkörperte Gott N die Erde, weil die Erschaffung der Erde, die aus dem Urmeer aufstieg, dem Aufsteigen einer Schildkröte an die Oberfläche eines Teiches glich. Gott N manifestierte sich auch als die vier Bacabs. Diese beschrieb im 16. Jahrhundert Diego de Landa, Bischof von Yucatán, als »vier Brüder, die [der Schöpfer-]Gott bei der Erschaffung der Welt an deren vier Punkte gestellt hat und die den Himmel hochhalten, damit er nicht herabfällt«.
Benfords Unterscheidung ist hier sehr deutlich sichtbar. Die Sichtweise der Mayas wie die vieler alter Kulturen war menschenbezogen. Sie versuchten, das Universum in den Begriffen ihrer Alltagserfahrung zu verstehen. Ihre Geschichten erklärten die Natur, indem sie sie in menschlichen Begriffen abbildeten – nur größer. Doch innerhalb dieses Rahmens taten sie ihr Möglichstes, um den großen Fragen nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest auf die Spur zu kommen.
Menschen im Westen assoziieren die Schildkröten-Elefanten-Welt meistens mit dem Hinduismus. Im Versuch über den menschlichen Verstand des Philosophen John Locke von 1690 wird ein Inder erwähnt, »der sagte, die Welt befinde sich auf einem Elefanten und dieser auf einer Schildkröte«*. [* Das ist die Formulierung, die zahlreiche Autoren im Internet voneinander abgeschrieben haben. Bei Locke steht, bei genauerer Überlegung hätte ein gewisser armer indischer Philosoph »sich die Mühe ersparen können, einen Elefanten zum Träger der
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