Das Jüngste Gericht: Die Wissenschaft der Scheibenwelt 4 (German Edition)
taten«, wie Feynman es formuliert, erwarben sie neue Eigenschaften wie die Zellteilung. Sie bekamen ein funktionsfähiges Erbgut, sie erwarben Augen und Nervensysteme und benutzten sie. Sie erhoben sich aus den physikalisch-chemischen Systemen heraus , ebenso wie wir uns aus dem Gravitationsgesetz herausgehoben haben. Organismen besitzen neue Tricks, erschließen neue Kontexte. Vögel beispielsweise sind zwar schwerer als Luft, können aber fliegen.
Wir behaupten nicht, der Vogelflug sei unvereinbar mit den »fundamentalen« physikalischen Gesetzen, die für die Materie gelten, aus der sie bestehen. Das käme dem Fehler von Descartes sehr nahe, der voraussetzte, Geist und Materie seien zwei verschiedene Dinge. Fliegen ist durchaus vereinbar mit den Gesetzen der Physik. Der Schwerkraft, die auf die Atome wirkt, aus denen der Vogel besteht, muss die Auftriebskraft entgegenwirken, die von den Flügeln erzeugt wird, während sie sich durch die Luft bewegen. Sonst fliegt der Vogel nicht. Dito ein Jumbojet. Worauf wir hinauswollen: Fliegen lässt sich nicht natürlicherweise aus den fundamentalen Gesetzen ableiten. Moleküle können nicht fliegen, aber Vögel – die aus Molekülen bestehen – können es. Ein Molekül kann fliegen, wenn es Teil eines Vogels ist. Der Kontext macht einen großen Unterschied aus. Das Leben hat eine vielfältige Liste von komplexen Systemen erworben – jedes einzelne aus natürlicher Selektion hervorgegangen –, um Organismen aus altem Unvermögen zu neuen Fähigkeiten emporzuheben.
Der Brei in einem Frosch ähnelt überhaupt nicht dem Brei in einem Felsen. Die Atome können ziemlich gleich sein, aber die unterschiedlichen Anordnungen, um Feynmans Worte zu gebrauchen, ändern völlig das Verhalten, das man von Frosch-Brei erwartet. Ebenso sind die Atome in einem Menschen oder einem Pinguin oder einem Paket Seifenpulver unterschiedlich angeordnet. Um den Vogel, den Frosch oder das Seifenpulver zu verstehen, genügt es nicht, über die zugrunde liegenden Atome oder Elementarteilchen Bescheid zu wissen. Ihre Anordnung entscheidet. Sie könnten sogar aus ziemlich unterschiedlichem Stoff bestehen, aber wenn der so angeordnet ist, dass er ähnliche Funktionen ausführt, erhält man immer noch Vögel, Frösche und Seifenpulver.
Es sind die Anordnungen, die die Magie ausmachen, nicht der Brei.
Atome in unterschiedlichen Anordnungen haben unterschiedliche Eigenschaften: Ein Atom in einem Stück Gestein ist wahrscheinlich eins von Millionen in einem Kristallgitter, und es ist im Grunde ein dauernder Bestandteil dieses Gitters. Ein Atom in einem Lebewesen ist wahrscheinlich Teil eines sehr komplexen Netzwerks und wechselt ständig atomare und molekulare Partner. Zudem ist dieses veränderliche System nicht typisch für die selbstständigen Aktivitäten von Materie, die den fundamentalen Gesetzen gehorcht, obwohl sie sich im Einklang mit diesen Gesetzen befindet. Es ist über viele Generationen hinweg selektiert worden, sodass es etwas tut , wenn es funktioniert. Und das Etwas, das es tut, obwohl es nicht »etwas Zusätzliches« in Feynmans Sinn hat, trägt zum Leben des Organismus bei, dem es angehört. Es kann sogar zu einem Virus gehören, das den Organismus zerstört, aber auch dann ist es in den Prozess eingebunden, der das Leben ausmacht.
Das Leben hat sich aus den einfachen Naturgesetzen herausgehoben, in denen es seinen Anfang nahm, und ist inzwischen eine ganze komplexe Welt, von jenem Ursprung mindestens ebenso weit entfernt wie ein modernes Flugzeug von einer Steinaxt. Die Szene am Ende des ersten Akts des Films 2001: Odyssee im Weltraum , in welcher der Vormensch einen Schenkelknochen hochwirft und dieser sich in eine Raumstation »verwandelt«, ist eine hübsche Illustration für genau diese Art von Evolution. Und diese Verwandlung ist nichts dagegen, wie das Leben über seine Ursprünge hinausgegangen ist.
Betrachten wir es aus einer anderen Perspektive. In der materiellen Welt, der Welt der Physik und Chemie, gibt es viele fortlaufende Prozesse, von der unvorstellbaren Physik im Zentrum von Sternen zum gefrierenden und tauenden Ethan und Methan des Saturnmondes Titan. Sterne explodieren und verstreuen die Elemente, die sich in ihnen gebildet haben, in den Kosmos, und Planeten ballen sich aus dieser Mixtur zusammen, alles gemäß den Gesetzen von Physik und Chemie. Dann, vielleicht in der Tiefsee nahe dem Graben im Ozeanboden, dem hochreduzierte Verbindungen entströmen, brachte
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