Das Jüngste Gericht: Die Wissenschaft der Scheibenwelt 4 (German Edition)
des Chaos, mit dem Schmetterlings-Effekt verwandt, aber technisch unterschiedlich.
Mathematisch ergeben sich die Wahrscheinlichkeiten, mit denen der Würfel auf den verschiedenen Seiten landet, aus den Bewegungsgleichungen als sogenanntes invariantes Maß. Eine Chance von 1 : 6 für jede Würfelseite. In gewissem Sinn gleicht das invariante Maß einer Quantenfunktion. Man kann es aus den Bewegungsgleichungen errechnen und benutzen, um statistisches Verhalten vorherzusagen, aber man kann es nicht direkt beobachten. Man erschließt es aus wiederholten Folgen von Experimenten. In gewissem Sinn lässt auch die Beobachtung (des Endzustandes des Würfels) die Wellenfunktion »zusammenbrechen«. Der Tisch und die Reibung zwingen den Würfel in einen Gleichgewichtszustand, der jeder von sechs möglichen Fällen sein kann. Festgelegt wird der beobachtete Wert der Wellenfunktion durch die geheime Dynamik eines rollenden Würfels, der von einem Tisch abprallt. Das ist in der Wellenfunktion überhaupt nicht codiert. Es schließt neue »verborgene Variablen« ein.
Man kann nicht umhin, sich zu fragen, ob nicht etwas Ähnliches in der Quantenwelt geschieht. Die Quanten-Wellenfunktion ist vielleicht nicht die ganze Geschichte.
Als die Quantenmechanik eingeführt wurde, gab es keine Chaostheorie. Aber die ganze Entwicklung hätte anders verlaufen können, wenn es sie gegeben hätte, denn die Chaostheorie sagt uns, dass deterministische Dynamik den Zufall exakt nachbilden kann. Wenn wir sehr feine Einzelheiten des deterministischen Systems ignorieren, beobachten wir etwas, das nach Zufallswürfen aussieht. Wenn uns aber nicht klar ist, dass Determinismus Zufall nachbilden kann, dann haben wir keinerlei Aussicht, die scheinbare Zufälligkeit, die wir in Quantensystemen beobachten, mit irgendeinem deterministischen Gesetz in Verbindung zu bringen. Bells Theorem macht der ganzen Idee sowieso den Garaus. Nur dass es das nicht tut. Es gibt chaotische Systeme, die große Ähnlichkeit mit Quantensystemen haben, scheinbare Zufälligkeit deterministisch erzeugen und – was der springende Punkt ist – Bells Theorem überhaupt nicht widersprechen.
Solche Modelle würden noch viel Arbeit erfordern, um sie zu einem echten Konkurrenten für die herkömmliche Quantentheorie zu machen, wenn es denn möglich wäre. Das Rolls-Royce-Problem erhebt sein Haupt: Wenn ein neues Auto-Design damit steht und fällt, dass es den Rolls-Royce übertreffen muss, wird Innovation unmöglich. Kein Newcomer darf hoffen, etwas bereits fest Etabliertes zu verdrängen. Aber wir können nicht umhin, uns zu fragen, was geschehen wäre, wenn die Chaostheorie vor den frühen Arbeiten auf dem Gebiet der Quantenmechanik entstanden wäre. Wenn die Physiker vor einem anderen Hintergrund gearbeitet hätten, in dem man keinen Widerspruch zwischen deterministischen Modellen und scheinbarer Zufälligkeit gesehen hätte – wären sie dann wohl zur gegenwärtigen Theorie gelangt?
Vielleicht – aber manche Aspekte der Standard-Theorie ergeben nicht viel Sinn. Insbesondere wird eine Beobachtung mathematisch als einfacher, kristalliner Prozess dargestellt, während eine wirkliche Beobachtung ein Messgerät erfordert, dessen quantenmechanische Formulierung im Einzelnen viel zu kompliziert ist, um jemals handhabbar zu sein. Der größte Teil der paradoxen Züge der Quantentheorie erwächst aus diesem Missverhältnis zwischen einem der Schrödingergleichung ad hoc angefügten Term und dem tatsächlichen Beobachtungsvorgang, nicht aus den Gleichungen als solchen. Wir können also spekulieren, dass sich bei einem anderen Verlauf der Geschichte unser »Gesetz« für Quantensysteme als sehr verschieden erwiesen und Schrödinger keinen Anlass gehabt hätte, seine rätselhafte Katze einzuführen.
Ob nun unsere gegenwärtigen physikalischen Gesetze speziell und einzigartig sind oder ob ein anderes Ensemble ebenso gut funktionieren könnte – es bleibt noch etwas über Gesetze generell zu sagen. Und über ihre Ausnahmen – sowie speziell darüber, wie man über sie hinausgeht. Damit meinen wir nicht, dass die Gesetze verletzt würden. Wir meinen, dass sie unmaßgeblich werden, weil sich der Kontext ändert, so wie ein Jumbojet über die Schwerkraft hinausgeht, indem er Luftströmung an seinen Flügeln verwendet.
Wir werden das Ohm’sche Gesetz als Beispiel nehmen, weil es einfach zu sein scheint.
In Bezug auf die Elektrizität gibt es grundsätzlich zwei Arten von Stoffen: Es ist
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