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Das juengste Gericht

Das juengste Gericht

Titel: Das juengste Gericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Udo Scheu
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nicken. Schließlich sah sie von den Gemälden zu Schultz hoch. »Sie möchten wissen, was ich davon halte? Am Telefon haben Sie mir gesagt, dass ein Kind diese Malereien gemacht hat. Darf ich wissen, welches Geschlecht das Kind hat, weiblich oder männlich?«
    »Ein junges Mädchen hat die Bilder gemalt.«
    »Wie alt ist das Kind?«
    Schultz rutschte auf dem Sitz nach vorn. »Es wurde elf Jahre alt.«
    »Heißt das, dass sie tot ist? Wurde sie etwa ... umgebracht?«
    »Leider trifft Ihre Annahme zu. Was können Sie aus diesen Bildern herleiten?«
    Frau Reiche machte zunächst ein ernstes Gesicht. Mit einem Mal lachte sie auf. »Als ich das erste kleine Kunstwerk betrachtete, dachte ich zunächst, dass vielleicht ein Casting wiedergegeben werden sollte. Das glaube ich nun allerdings nicht mehr. Wenn ich unterstelle, dass alle drei Zeichnungen von demselben Mädchen herrühren, haben die Darstellungen einen Signalcharakter.«
    »Ich bin nicht sicher, ob ich das richtig verstehe.«
    »Damit will ich sagen, dass es einige Auffälligkeiten gibt.« Schultz holte aus seiner Aktentasche einen Block und einen Füllfederhalter. »Würden Sie mir das bitte näher erklären.«
    »Ich will versuchen, den Hintergrund der Bilder zu deuten. Es gibt eine Menge von aussagekräftigen Hinweisen. Beginnen wir mit den übergroßen Darstellungen. Da haben wir etwa die Kameras, die Liege, die Uhr und auf dem dritten Bild den Mund. Sie drücken zunächst einmal eine Willensbeugung aus, also dass dem Kind etwas aufgezwungen wurde, was es nicht wollte. Es lehnte die Bilder ab, die mit den Kameras gemacht wurden. Die überdimensionale Liege mochte es ebenfalls nicht, wollte sich also darauf nicht aufhalten.«
    »Was ist mit der Uhr?«
    »Sie könnte dafür sprechen, dass bestimmte Vorgänge immer zur selben Zeit erfolgten. Es kann aber auch ein Gegenstand sein, den das Kind fixierte, um sich von anderen Geschehnissen abzuwenden.«
    »Und der übergroße Mund, der für sich alleine dasteht?«
    »Es ist typisch für den von mir schon erwähnten Signalcharakter einzelner Darstellungen, dass Ausschnitte von Menschen wiedergegeben werden, Körperteile. Bleiben wir bei dem zu einem Schrei geformten Mund. Dieser Ausschnitt kann zum Beispiel deshalb charakteristisch sein, weil den Kindern oft die Wiedergabe eines Erlebnisses unter Androhung von fürchterlichen Strafen verboten wird. Dann ist es in diesen Fällen der Mund, der für sich alleine gemalt wird. Er kann bedeuten, dass das Mädchen angeschrien wurde. Vielleicht steht er aber auch dafür, dass die kleine Künstlerin über bestimmte Dinge schweigen musste, die sie gerne herausgeschrien hätte.«
    Schultz hörte bewegungslos zu. »Gehören in diese Kategorie der Bewertung auch die fehlenden Hände?«
    »Hände drücken Bedrohlichkeit und Angst aus, sie sind Werkzeuge per se für alle aufgezwungenen bösartigen Dinge. Ihr Fehlen entspricht einem Verdrängungsmechanismus.«
    »Welche Bedeutung haben dabei die Farben?«
    »Jetzt kommen wir in den Bereich der Psychoanalyse. Nehmen Sie das dritte Bild. Die hauptsächlich benutzten Farben sind Gelb, Grün und Ocker. Alle drei Farben drücken Abwehr und Widerstand aus. Sie sind absichtlich schmutzig wiedergegeben, also abstoßend gewählt.«
    »Sie sprachen von Willensbeugung, Bedrohung, Verdrängung, Schmutz, Angst und Ekel als Hintergründe für die Gestaltung der drei Malereien. Demnach dürfte sich meine nächste Frage fast erübrigen. Dennoch muss ich sie stellen, da Sie die Sachverständige sind. Begründen die drei Bilder einen konkreten Verdacht, wenn Sie die von Ihnen beschriebenen Aussagen in ihrer Gesamtheit bewerten?«
    »Leider ja! Ich will Ihnen vorab noch sagen, dass ich Kinder, die wegen Auffälligkeiten vergleichbarer Art zu mir gebracht werden, häufig Bilder malen lasse, um zu sehen, was in ihnen vorgeht. Meines Erachtens sprechen die von Ihnen mitgebrachten Malereien für den Verdacht eines sexuellen Missbrauchs des Kindes.«
    Schultz hatte dieses Ergebnis mehr und mehr auf sich zukommen sehen und kommentierte es mit einem resignierenden Schulterzucken. Er kramte einen Zettel hervor und schaute einen Augenblick auf seine Notizen. »Frau Reiche, Kinder neigen zur Fantasie und zum Erfinden von Vorgängen. Woraus können Sie schließen, ob derartige Malereien ein reales Erlebnis verkörpern?«
    »Es braucht immer einen Impuls. Je präziser die abgebildeten Gegenstände und Vorfälle sind, umso mehr spricht dies gegen Fantasie. Hier

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