Das juengste Gericht
aufgeschlagenen Ordner entgegen. Köhler warf einen Blick auf die amtliche Bescheinigung und nickte nur. Er schnappte Sennelaub am Arm. »Komm, Dieter. Wir gehen.«
28. Kapitel
»Wie kommt man in Frankfurt am Main noch an ein solch romantisches Haus?«, fragte Schultz die Frau mit den schulterlangen braunen Haaren, die ihn durch eine Nickelbrille mit kreisrunden randlosen Gläsern aus sanften braunen Augen anschaute.
»Sie können es nicht verfehlen«, hatte ihm Yvonne Reiche gestern Abend am Telefon gesagt. »Es sieht wie ein Hexenhäuschen aus.« Tatsächlich erschien ihm nun das kleine Haus am Anfang der Antoninusstraße im Frankfurter Stadtteil Heddernheim auf anheimelnde Weise verschachtelt. Die Wände waren aus roten Ziegeln. Ein unebenes Kopfsteinpflaster hinter der Gartentür im Innenhof strahlte Gemütlichkeit aus. Schultz stand auf der obersten der drei Treppen zur Haustür, die sicher einmal zum Fernhalten der Mäuse erhöht angelegt worden war. Frau Reiche lächelte ihn an. »Sie müssen Herr Schultz sein.«
Er hing seinen Gedanken nach und hörte nicht zu. Das also war Yvonne Reiche, Kinderpsychologin und Psychoanalytikerin. Sie galt als ausgewiesene Kapazität, mit fester Meinung auch in komplizierten Fällen und großer Erfahrung als Sachverständige vor Gericht. Die Staatsanwälte aus den beiden Jugendabteilungen der Behörde und die Beamten des K 43, des Jugendkommissariats der Frankfurter Polizei, hatten ihm die Dame auf seine Rückfrage ans Herz gelegt. Heute Morgen hatte er sie in aller Frühe angerufen, sein Anliegen vorgetragen und terminlich davon profitiert, dass ein Patient von Frau Reiche gerade seinen Termin abgesagt hatte. 9:15 Uhr hatte sie ihm angeboten. Er hatte sofort zugesagt, zu ihr zu kommen.
Mit einem Mal wurde sich Schultz der Unhöflichkeit bewusst, dass er sich nicht einmal vorgestellt hatte. »Entschuldigen Sie bitte, der exotische Charakter Ihres Häuschens hat mich so gefangen genommen, dass ich die schlichtesten Höflichkeitsformen vergessen habe. Mein Name ist Schultz. Wir haben miteinander telefoniert.«
Das ungeschminkte Gesicht von Frau Reiche wies nicht einmal Falten auf, wenn sie, wie jetzt, ein breites Lächeln zeigte. Schultz schätzte sie auf ungefähr vierzig Jahre. Er nahm ihre ausgestreckte Hand entgegen. »Vielen Dank, dass Sie so schnell Zeit für mich haben.«
Sie drehte sich zum Eingang. »Kommen Sie. Und passen Sie bitte auf Ihren Kopf auf. Die Decken sind sehr niedrig und zum Teil von Holzbalken durchzogen.«
Frau Reiche führte Schultz in einen kleinen Raum, der von einem Kachelofen mit Sitzbank beherrscht wurde. Sie schlug ihm vor, seinen Mantel auf einer Liege abzulegen, die mit hellem Leinenstoff bezogen und an die Wand gerückt war. Anschließend bot sie ihm einen Platz in einem Weidenkorbsessel an und setzte sich ihm gegenüber. Die Hände ineinandergelegt beugte sie sich zu Schultz vor. »Was kann ich für Sie tun? Darf ich Ihnen einen Tee anbieten? Ich habe einen schönen Gesundheitstee im Haus. Der wird Ihnen bestimmt schmecken.«
Einen Moment lang zögerte Schultz. »Wenn ich es mir recht überlege, ist das eine gute Idee. Ich hoffe, Sie haben nicht zu viel Mühe damit.«
Ohne weiteren Kommentar verließ Frau Reiche das Zimmer. Knapp fünf Minuten später kehrte sie zurück und reichte ihm einen dampfenden Becher aus dunkelbraunem Steingut, aus dem es stark nach einer Kräutermischung duftete.
Mit gespielt begeistertem Gesichtsausdruck probierte Schultz einen kleinen Schluck. »Interessanter Geschmack. Man kann in dieser Jahreszeit nicht genug gegen Erkältungen tun. Ob es nützt, ist eine andere Frage. Aber der Glaube versetzt Berge.«
Schultz nahm seine kleine schwarze Lederaktentasche vom Schoß und legte sie auf die Glasplatte des runden Holztischchens, das neben seinem Sessel stand. Er holte die drei Bilder von Sunita heraus und hielt sie Frau Reiche entgegen. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich diese drei Malereien einmal genau ansehen und mir dann Ihre Meinung dazu sagen würden.«
Mit beiden Händen bündelte Frau Reiche ihren weiten schwarzen Wollrock über ihrem Schoß zusammen und legte darauf die drei Blatt Papier. Sie lehnte sich zurück, drückte ihre Brille zur Nasenwurzel hoch und schaute sich die Bilder eines nach dem anderen längere Zeit an.
Anfänglich legte sie ihren Zeigefinger an die Lippen und machte ein nachdenkliches Gesicht. Nach einer Weile lösten sich ihre Gesichtszüge, und sie begann, heftig zu
Weitere Kostenlose Bücher