Das juengste Gericht
Schreiner.
Frau Weil schürzte die Lippen. »Es steht uns nicht zu, unsere Geschäftsleiterin auszuforschen. Gleichwohl pflegen wir natürlich kollegialen Kontakt. Dabei werden gelegentlich auch persönliche Dinge angesprochen. Zufällig kann ich Ihnen deshalb ein klein wenig weiterhelfen. Frau Vincenzo hat einen italienischen Ehemann. Wenn ich es richtig verstanden habe, wollte sie wegen einer Familienfeier ihre Schwiegereltern besuchen. Sie leben in der Toskana. Ich meine, in Lucca. Genau weiß ich das nicht. Da mir eine Mobilfunknummer nicht bekannt ist, kann ich nicht mit ihr telefonieren. Vielleicht wüsste ihre Vertreterin weiter. Sie ist zu meinem Bedauern ebenfalls nicht zu sprechen, da sie wegen eines Trauerfalls nach Berlin musste.«
»Würden Sie uns vorsorglich die Privatadresse mitteilen? Falls unser Anliegen eilbedürftig werden sollte, könnten wir es am Wochenende bei Frau Vincenzo probieren.«
Mit gnädiger Miene nahm Frau Weil ein kleines Papier aus dem Zettelkästchen. »Die Adresse habe ich nicht genau im Kopf. Sie wohnt im Südring in Hattersheim. Ich gehe kurz nach hinten in den Personalakten nachschauen und notiere Ihnen die Anschrift mit Telefonnummer.«
»Sehr freundlich. Ab wann haben Sie am Montag geöffnet?«, fragte Schreiner.
»Von zehn Uhr vormittags an.«
Schreiner und Köhler tranken noch einen Schluck Kaffee, bedankten und verabschiedeten sich. Vor der Tür steckte sich Schreiner eine Zigarette an. »Da drüben vor der Alten Oper in dem Seitensträßchen Luginsland ist ein asiatisches Schnellrestaurant. Es heißt Mosch-Mosch. Lass uns dort eine scharfe Nudelsuppe essen gehen. Darauf hätte ich nach diesem mäßigen Erfolg richtig Lust.«
Unmittelbar vor dem Restaurant klingelte Schreiners Mobiltelefon. Wegen des Straßenlärms suchte er einen Hauseingang auf. Kurz darauf kehrte er zu Köhler zurück. »Du musst die Suppe alleine auslöffeln. Ich muss dringend weg.«
Köhler machte große Augen, als Schreiner ihm den Inhalt des Gesprächs umriss. »Das sehe ich ein. Da musst du hin. Soll ich nicht lieber mitgehen?«
Schreiner schüttelte den Kopf.
35. Kapitel
Die gleichmäßig surrenden Geräusche auf dem freien Platz in der Nähe der beiden hohen Türme des Westhafens auf der diesseitigen Frankfurter Mainseite wurden plötzlich von einem gewaltigen Knall übertönt. Fast gleichzeitig war ein markerschütternder Schrei zu vernehmen.
Das Skateboard schlug mit der Stehfläche auf das Pflaster, kippte beim Aufprall wieder auf die Räder und rollte führungslos weiter. Einige Meter davon entfernt rappelte sich ein dunkelhäutiger Teenager mühsam vom Boden auf. Mit einer Hand rieb er sich über das Knie, die andere presste er gegen seinen Rücken. Tränen quollen aus seinen Augen. »Dorjey? Dorjey! Du musst mir helfen. Ich habe mir weh getan.«
Dubhos älterer Bruder eilte zu ihm. Er begutachtete die Verletzungen seines Bruders und winkte ab. »Stell dich nicht so an. Ein paar Schürfwunden, das ist alles. Das passiert jedem mal, der Skateboard fährt. Wenn du das nicht aushältst, musst du dir einen anderen Sport suchen.«
Mit dem Handrücken wischte sich Dubho die Tränen fort.
»Du bist vielleicht ein Bruder. Wenn man dich mal braucht, lässt du einen im Stich.«
»Hör auf. Du lässt dir ja nicht helfen. Solange du kein Vertrauen zu mir hast, bin ich auch nicht dein großer Bruder.«
»Wie meinst du das?«
»Das weißt du genau. Du schleichst seit Tagen durch die Gegend wie das wandelnde Schuldgefühl, guckst, als hättest du Prügel bezogen. Sobald ich dich fragend anschaue, machst du ein trotziges Gesicht.«
Dubho ließ den Kopf hängen. Er bewegte sich hinkend auf eine abgelegene Ecke des Platzes zu und bedeutete Dorjey, ihm zu folgen. »Es stimmt, was du sagst. Ich habe Mist gebaut, großen Mist. Du musst mir helfen. Bitte!«
Dorjey blieb stehen und lehnte sich gegen einen Baum. »Na gut. Ich will dir helfen. Aber nur unter einer Bedingung. Du sagst mir die Wahrheit.«
»Ich habe panische Angst. Ein Mann hat mich mit dem Tod bedroht. Ich weiß nicht einmal, wer er ist.«
Mit einer abwehrenden Handbewegung unterbrach Dorjey seinen Bruder. »Das hat so keinen Sinn. Dort drüben steht eine Bank am Ufer. Da sind wir für uns. Lass uns hingehen. Dann erzählst du mir alles. Und zwar der Reihe nach.«
Auf der Bank legte Dorjey den Arm um seinen Bruder und drückte ihn an sich. Dubho berichtete ihm von der Begegnung mit dem Unbekannten. Er räumte auch ein, dass er
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