Das juengste Gericht
Köhler und Schreiner absichtlich nichts von seinem Brief an Sunita erzählt habe, um nicht in Verdacht zu geraten. »Ich habe noch mehr gelogen, Dorjey. Natürlich weiß ich, wer der Kerl ist, der Sunita im dicken Auto von der Schule abgeholt hat. Sie hat es mir selbst erzählt. Deshalb habe ich ihr auch mit dem Zettel gedroht, sie auffliegen zu lassen.«
Dorjey fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Ist das wieder eine deiner Lügengeschichten, die du erfunden hast, um von dir abzulenken? Dubho, weißt du was? Ich glaube immer mehr, dass du Sunita vom Dach gestoßen hast. Sag mir, wenn es ein Unglücksfall war. Ich helfe dir auch dann. Aber du musst endlich mit der Wahrheit herausrücken.«
Dubho heulte auf. »Wer soll mir noch glauben, wenn du es nicht tust. Ich bin wirklich jetzt ehrlich zu dir gewesen. Vertraue mir ein einziges Mal.«
Der Oberkörper von Dorjey straffte sich, so dass Dubho zu ihm aufschauen musste. »Gut! Ein letztes Mal. Aber dann musst du den Weg gehen, den ich jetzt vorschlage. Du gehst zur Polizei und sagst denen alles.«
Das blanke Entsetzen stand in Dubhos Gesicht. »Davor habe ich Angst. Vielleicht glauben sie mir auch nicht und behalten mich gleich dort.«
Dorjey zuckte die Schultern. »Du musst. Es gibt keinen Ausweg. Ich werde bei dir bleiben. Ruf den Typen an, der seine Visitenkarte dagelassen hat. Du hast eben gesagt, du hättest sie damals rasch vom Flurtisch genommen und eingesteckt, damit Mutter nicht etwa Kontakt aufnehmen könne. Außerdem sei er ganz nett gewesen. Vielleicht ist er bereit, sich mit uns an einem unbeobachteten Ort zu treffen.«
Dubho kaute an seinem Daumennagel. Dann zog er sein Portemonnaie und reichte Dorjey eine geknickte Karte. »Rufst du ihn bitte von deinem Handy aus an?«
Dorjey nickte. »Diktiere die Nummer.«
Mit geübter Hand gab Dorjey die Ziffern ein, erhob sich von der Bank und entfernte sich ein paar Schritte von seinem Bruder. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis er wieder zurückkam.
»Er ist gerade in der Goethestraße, kommt aber gleich rüber. Wir treffen uns in etwa einer halben Stunde am Koreanischen Tempel im Grüneburgpark. Er hat den Treffpunkt vorgeschlagen, weil wir dort sicher sein können, dass du von niemand beobachtet wirst. Allerdings müssen wir uns beeilen. Wir spurten zum Baseler Platz und nehmen von dort die Straßenbahn. Ich möchte, dass wir alles so schnell wie möglich hinter uns bringen.«
Als Dubho und Dorjey etwas abgehetzt am Koreanischen Tempel ankamen, lehnte Schreiner an einem Baum und rauchte eine Zigarette. Sie setzten sich an eine abgeschiedene Stelle am Tempel.
Schreiner lächelte Dubho zu. »Dein Bruder hat mir gesagt, dass du mich sprechen wolltest. Es sei dringend. Hier bin ich. Ich höre zu.«
Es dauerte eine Weile, bis Dubho zu reden begann. Schreiner unterbrach ihn nicht. Als Dubho geendet hatte, musterte Schreiner ihn mit einem durchdringenden Blick. »Jetzt sind wir der Sache etwas nähergekommen. Allerdings habe ich noch ein paar Fragen. Du kennst also den Mann, der Sunita an der Schule abgeholt hat. Er war auch nicht nur einmal, sondern öfter dort. Wie heißt er denn?«
»Das weiß ich nicht.«
Schreiner zog die Augenbrauen hoch, was seinem narbigen Gesicht einen diabolischen Ausdruck verlieh. »Dann beschreibe ihn doch bitte einmal genau.«
Als Dubho geantwortet hatte, runzelte Schreiner die Stirn.
»Deine Beschreibung gibt das Foto wieder, das ich dir bei euch zu Hause gezeigt habe. Schilderst du jetzt wirklich deine eigenen Beobachtungen des Mannes oder nur, was du von dem Foto her weißt?«
»Es war der Typ auf dem Bild.«
»Na gut. Lassen wir das mal so stehen. Wie sah denn der Kerl aus, der dich wegen deines Briefchens an Sunita bedroht hat?«
Dubho dachte nach. »Ich war sehr aufgeregt. Deshalb habe ich mich nicht getraut, ihn genau anzuschauen. Er hatte ein auffällig eckiges Gesicht. Die Haare sahen wie bei uns Indern aus. Dunkel und glänzend. Er trug sie nach hinten gekämmt, etwas lang.« Er legte eine Pause ein. »Da waren noch seine Kopfbewegungen. Sie waren ulkig.«
»Was heißt das? Mach es bitte mal vor.«
Dubho hielt den Kopf erst gerade und drehte ihn dann plötzlich schnell zur Seite. »Na ja, so ruckartig.«
Schreiner sinnierte vor sich hin und nickte dann. Dubho betrachtete ihn. »Sie kennen den Mann?«
»Vielleicht. Jedenfalls ist diese Beschreibung von dir überzeugender ausgefallen als die zu Sunitas Begleiter. Es kann sein, dass ich dich in den
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