Das juengste Gericht
Trotzdem ist es unter dem Strich schöner, eine gewisse Zeit sehr gut als eine lange Zeit sehr schlecht zu leben.«
Beuchert schüttelte mehrmals den Kopf. »Wo andere ein Herz haben, hast du einen Backstein. Heute Morgen hast du vor Phillip die Rolle der entsetzten Mutter gespielt, als du mit den Polizisten ins Zimmer stürztest und uns vom Tod Sunitas unterrichtet hast. Du hast vielleicht eine großbürgerliche Erziehung. Was dir allerdings nie jemand beigebracht hat, ist eine Gefühlskultur und Herzenswärme. Bei dir läuft alles über den Verstand. Es gibt leider nichts, was dich wirklich im Inneren anrührt.«
Karin Beuchert stemmte die Fäuste in die Taille und wollte eben zu einem Protest ansetzen, als sich die Tür zur Küche einen Spalt öffnete und ein zierliches, kleines Mädchen mit langen schwarzen Haaren den Kopf hindurchsteckte. Mit der rechten Hand raffte es sein rosa Spitzennachthemd zusammen und schaute mit kugelrunden Augen zu seinen Adoptiveltern hinauf.
»Warum streitet ihr denn schon wieder? Ich kann gar nicht in Ruhe in meinem Bilderbuch blättern, weil ihr so laut seid. Hört auf zu zanken.«
Beuchert erschrak. Mit Rupa musste er noch reden. Allein. Das hatte er kurzzeitig verdrängt. Es lastete wie eine Hypothek auf seiner Seele. Mit gezwungenem Lächeln wandte er sich ihr zu.
»Hast du überhaupt schon etwa zu essen bekommen?«
»Natürlich hat das Kind gegessen. Sehr gut sogar. Wie immer. Wir haben uns telefonisch eine Pizza bestellt. Und ein paar gegrillte Hühnerflügel mit Ketchup. Sie hat es verdient, dass ich mich um sie sorge«, sagte Karin Beuchert, nahm das Kind bei der Hand und zog es aus der Küche heraus.
Mit hängenden Schultern sah Wolfgang Beuchert seiner Frau Karin und Rupa nach. Wie sehr doch das Kind seiner Schwester Sunita ähnlich war. Allerdings führte bei aller Trauer um sein totes Kind kein Weg daran vorbei, dass der Hunger in ihm bohrte. Er schaute auf seine Armbanduhr. Heute würde er nicht mehr mit seiner kleinen Adoptivtochter Rupa reden. Das konnte bis morgen warten, zumal ihm vor dem Gespräch und der damit verbundenen eigenen Unaufrichtigkeit graute. Irgendetwas müsste ihm einfallen, damit sich dieser Albtraum von selbst erledigen würde. Aber was?
Beuchert bemitleidete sich. Warum musste ausgerechnet er immer alle Unannehmlichkeiten der Welt bis zur Neige auskosten? Das hatte er nicht verdient. Schließlich hatte er sich ein Leben lang abgerackert und war wieder und wieder auf die Füße gefallen. Wie ein Stehaufmännchen.
Er könnte sich umbringen. Dann wäre er alle Sorgen mit einem Schlag los. Allerdings konnte er sich das nur vorstellen, wenn ihm eine völlig schmerzlose Variante zur Verfügung gestanden hätte. Selbst dann blieb die Ungewissheit, was hinterher war. Schließlich würde man ihm nachsagen, dass er feige gewesen und vor anstehenden Problemen davongelaufen wäre.
Zielstrebig stand Beuchert auf und holte aus einem der Hängeschränke ein Schnapsglas. Dann langte er in die Innenseite der Kühlschranktür und entnahm ihr eine Flasche Obstler. Er goss sich das Glas randvoll und kippte es in einem Zug in den Mund. Das Glas setzte er in der Spüle ab, hängte sich die nasse Jacke über und verließ das Haus.
Er fühlte, wie eine namenlose Angst in ihm aufstieg. Weil ihn etwas einholte, das er nicht aufhalten konnte.
8. Kapitel
»Irgendwie bist du heute anders als sonst«, sagte Schultz zu seiner Frau Traudel, als sie sich an den Küchentisch setzte und aus dem Fenster in den Garten schaute. »Du redest so wenig. An meinem Frühstück kann es nicht liegen. Es gibt wie üblich Müsli mit Joghurt und Obststücken.«
»Es ist nichts. Ich bin nur noch ein bisschen müde.«
»Wir kennen uns zu lange, Liebling. Du kannst mir nichts vormachen. Ich vermute, dass du mich nur nicht beunruhigen willst. Sag lieber, was los ist. Sonst mache ich mir den ganzen Tag Gedanken.«
Traudel zwang sich zu einem Lächeln. »Es ist wirklich nichts Dramatisches. Ich habe seit zwei Tagen Zwischenblutungen, die ich mir nicht so richtig erklären kann. Die Bauchschmerzen sind nicht der Rede wert.«
Schultz schrak zusammen. »Zwischenblutungen? Was bedeutet das?«
Sie zuckte mit den Schultern und setzte ein gleichmütiges Gesicht auf. »Die Ursache kenne ich nicht. Ich werde heute zu meinem Frauenarzt gehen, dann wissen wir Bescheid.«
Schultz hatte das Gefühl, als säße ihm ein Kloß im Hals, der ihn am Reden hinderte. Er hatte am Morgen, wie sooft, in
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