Das juengste Gericht
ziemlich müde. Es scheint Vollmond zu sein. Ich habe sehr schlecht geschlafen.«
Während Phillip Krawinckel sich anschickte, die Wünsche seiner Frau zu erfüllen, zog Mike Kellermann einen Holzkübel mit einem Zitronenbaum zur Seite und schloss die beiden gläsernen Schiebetüren des großräumigen Wintergartens hinter sich. Im Abdrehen setzte er ein hämisches Grinsen auf und hob den ausgestreckten Mittelfinger vor sein Gesicht.
Ellen Krawinckel hielt ihre Kaffeetasse mit beiden Händen und nippte mehrmals daran. »Was willst du so Vertrauliches mit mir besprechen, Phillip?«
Krawinckel winkte ab. »Gar nichts weiter. Kellermann muss nicht immer dabeistehen und sein wichtiges Gesicht aufsetzen. Er hält sich für unentbehrlich. Wir müssen ihm Grenzen setzen. Sonst hält er sich über kurz oder lang für ein Familienmitglied.« Überstürzt setzte Ellen Krawinckel ihre Tasse ab, hielt die Hände vor den Mund und täuschte einen Hustenanfall vor. Ihre Wangen wurden tiefrot. Ihre Gesichtszüge drückten Angst aus.
»Tut mir leid. Ich habe mich verschluckt. Willst du mit mir über Kellermann reden? Ist es das? Willst du ihm etwa kündigen?« Phillip Krawinckel setzte ein verschwörerisches Lächeln und einen viel sagenden Blick auf. »Hättest du dagegen etwas einzuwenden?«
Mit fahrigen Bewegungen der Hände, denen ihre Augen folgten, schien Ellen Krawinckel etwas auf dem Tisch zu suchen.
»Eigentlich nicht. Das musst du entscheiden. Ist er dir so unerträglich geworden?«
»Und dir?«
Ellen Krawinckel zögerte. »Ich bin noch zu müde. Deshalb habe ich noch keine Meinung.«
»Lass uns für den Augenblick über etwas anderes reden. Ich habe eine Bitte an dich. Mich rufen heute unerwartet ein paar wichtige Geschäfte. Könntest du die Gäste beim Lunch unterhalten? Ich will sie nicht so unvermittelt ausladen. Es sind keine wirklich bedeutenden Personen für uns dabei. Heute kommen lauter Kulturleute. Ein paar Künstler, Intendanten und Kommunalpolitiker. Die kosten uns alle nur Geld, ohne uns zu nützen. Das machst du mit links.«
Die Erleichterung über den Themenwechsel stand Ellen Krawinckel ins Gesicht geschrieben. »Sind es private Geschäfte? Gehst du persönlichen Dingen nach? Oder reden wir über Geld?«
»Was spielt das für eine Rolle? Fest steht, dass ich heute nicht die Gastgeberrolle übernehmen kann.«
»Du könntest schon. Vielmehr willst du nicht. Behaupte ja nicht, dass du keine Wahl hättest.«
Phillip Krawinckel erhob sich und ging zur Tür. »Das sind philosophische Spitzfindigkeiten, an denen ich mich nicht beteilige. Ich danke dir für deine Bereitschaft, mich zu unterstützen. Es wird wohl Abend, bis ich zurück bin.«
Ellen Krawinckel schaute ihm nach, zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf. Nach einer kurzen Weile hörte sie die Haustür schlagen. Anschließend vernahm sie das Heulen eines Motors, das langsam verebbte. »Herr Kellermann? Michael? Mike?«, rief sie mit kratziger Stimme. »Komm her, ich muss mit dir reden. Es gibt ein Problem.«
***
Krawinckel steuerte seinen silbergrauen Mercedes der S-Klasse von Bad Homburg in Richtung Nordweststadt. Er hatte sich deshalb heute für dieses Modell entschieden, da es nach seiner Einschätzung vergleichsweise unauffällig war. Natürlich hätte er den Maybach nehmen können. In der Umgebung seines Landhauses, wohin er im Anschluss fahren wollte, erregte der Maybach jedoch meist großes Aufsehen. Das wollte er vermeiden.
Krawinckel stellte die Scheibenwischer eine Stufe höher. Dieser Freitagmorgen, der 3. November, knüpfte wettermäßig nahtlos an die Vortage an. Den Himmel überzogen schwarze und graue Wolkenmassen. Sie wurden in atemberaubender Geschwindigkeit von Westen nach Osten gejagt, als stünden einige Riesen mit überdimensionalen Reitpeitschen am Horizont und schlügen auf die verquollenen Dunstschwaden ein. Es schüttete wie aus Milchkannen. Obwohl es schon gegen zehn Uhr war, schien es nicht hell werden zu wollen.
»Kein Wunder, dass im November statistisch die meisten Selbstmorde vorkommen«, murmelte Krawinckel vor sich hin. Mit einer Hand lockerte er sein dunkelrotes seidenes Halstuch, das er in den Kragen seines weißen Hemdes eingeschlagen hatte. Der kritische Blick in den Spiegel überzeugte ihn, dass er trotz salopper Kleidung keine jugendliche Erscheinung darstellte.
Der Wind peitschte den Regen in Fontänen gegen die Windschutzscheibe. An der Heckscheibe liefen unaufhörlich die Rinnsale wie
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