Das juengste Gericht
kleine Sturzbäche in Richtung Kofferraum. Auf der Beifahrerseite schaufelten die Reifen das Wasser wie sprudelnde Quellen auf die Bürgersteige. Die Passanten klammerten sich fast an die Hauswände, da sie fürchteten, von Kopf bis Fuß nass zu werden.
Während der vergangenen Nacht hatte Krawinckel lange Zeit wach gelegen. Tausend Dinge waren ihm durch den Kopf gegangen. Wie sooft waren seine Überlegungen in die Frage gemündet, welche Einstellung er zum Sinn seines Lebens einnehmen sollte.
Natürlich, er hatte eine überaus starke soziale Stellung, hatte Macht. Er wurde geachtet und gefürchtet, von einigen Menschen beides zugleich. Damit könnte er zufrieden sein, zumal er sich alle materiellen Wünsche erfüllen konnte.
Doch da kämpfte noch ein anderes Interesse in ihm, das er sich selbst gegenüber als seine dunkle Seite bezeichnete. Eine verborgene Nische in seinem Inneren, die er sorgsam verheimlichte. Selbst mit seiner Frau Ellen konnte er darüber nicht offen sprechen. Leben bedeutete auch, sich ausleben zu dürfen, Neigungen zu folgen, ihnen Raum zu geben.
Dennoch verfluchte er sich dafür. Weil das nie aufhörte. War der eine Wunsch erfüllt, meldete sich der nächste. Das wusste er genau, hatte es tausendmal erlebt. Wenn aber sein Urgrund nach Nahrung schrie, musste er ihn füttern.
Die Meinung seiner Mitmenschen hierzu interessierte ihn nicht. Mochten sie sich um ihre eigenen Schatten kümmern.
Oft hatte er sich gefragt, welche Mittel er einsetzen durfte, den so verstandenen Sinn des Daseins zu verwirklichen. Er hatte sich der Gewissenlosigkeit bezichtigt, hatte abgeschworen und war in eine ungebremste Mitleidshysterie verfallen. Im selben Atemzug rief ihm eine Stimme aus dem Urgrund seiner Emotionen zu: »Du bist gedemütigt worden. Nicht nur von den Menschen, sondern von der Schöpfung.«
Eine Weile war er mit sich im Streit gewesen, ob er die mit Beuchert getroffene Vereinbarung einlösen sollte. Die Hälfte seiner selbst beschwor ihn, es zu lassen. Der anderen Hälfte fehlte die Kraft und das Verständnis, sich danach zu richten.
Seinen Besuch hatte Phillip Krawinckel noch am Vorabend telefonisch bei Wolfgang Beuchert angekündigt. Langsam ließ er das Fahrzeug vor dessen Haus ausrollen, stellte die Scheibenwischer und den Motor ab und griff auf den Rücksitz nach einem großen Hotelschirm. Er öffnete die Fahrertür, hielt den Schirm ins Freie, spannte ihn auf und stieg aus. Weitgehend trocken erreichte er die Haustür Beucherts.
Karin Beuchert öffnete ihm und begrüßte ihn mit Küsschen.
»Komm erst einmal rein. Das ist ein Sauwetter. Willst du einen Kaffee oder einen schwarzen Tee mit Rum?«
Krawinckel machte eine Abwehrbewegung. »Ich habe vor nicht allzu langer Zeit gefrühstückt. Außerdem wollen wir gleich aufbrechen.«
»Wolfgang hat gesagt, dass du Rupa abholen willst. Das ist wirklich sehr lieb von dir. Wegen des Todesfalles muss sie ohnehin heute nicht zur Schule. Du hast dich Sunitas schon immer so aufopferungsvoll angenommen. Glaube nicht, dass ich das nicht die ganze Zeit mitbekommen hätte. Traditionell kümmert sich Wolfgang bei uns um die Kinder. Schließlich steht er ihnen näher als ich, da es die Kinder seines Bruders sind. Das bedeutet nicht, dass die Dinge an mir vorbeigegangen wären. Sunita war zwar sehr in sich gekehrt. Trotzdem meine ich, dass sie sich immer auf eure Treffen gefreut hat. Schließlich hast du ihr alle Wünsche erfüllt.«
Aus dem hinteren Teil des Flurs trat Wolfgang Beuchert näher und verharrte. Er sah völlig übernächtigt aus, als hätte er die Nacht durchgezecht. Tiefe Ringe hatten sich unter seine Augen gegraben. Die Schweißtropfen liefen ihm derart von der Stirn, dass die Brille beschlagen war. Seine Wangen waren ausgehöhlt, die Lippen glichen einem Feldweg im Hochsommer.
Entgegen seinen sonstigen Gepflogenheiten war er mit einem Unterhemd und einer Trainingshose bekleidet. Aus seinem Gesicht war jegliche Lebensfreude gewichen. Seine Miene spiegelte Angst, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit wider. Er sah gebrochen und zerstört aus. Seine Schultern waren nach unten gesackt und ließen ihn noch fülliger erscheinen, als er ohnehin war.
Er wischte sich die Handflächen an der Hose ab und begrüßte Krawinckel mit Handschlag. Bevor er zu sprechen begann, machte er verlangsamte Kaubewegungen und musste mehrmals schlucken. »Komm rein und setz dich einen Augenblick, Phillip. Rupa ist gleich fertig angezogen. Ich habe ihr gesagt,
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