Das juengste Gericht
können, war nicht sehr groß. So viel wusste er aus Erfahrung. Schließlich fuhr er bereits seit acht Jahren Taxi und kannte sich aus. Ursprünglich hatte er vorgehabt, das verdiente Geld zwei oder drei Jahre lang zu sparen und dann einen Lehrberuf anzutreten. Allein der Mangel an vernünftigen Lehrstellen hatte ihn abgeschreckt, bis er schließlich die Auffassung gewann, wirtschaftlich gesehen im Taxi am besten aufgehoben zu sein.
Ahmed El Nasri entschied sich für den Hauptfriedhof. Wenn er Glück hätte, würde irgendeine ältere Dame seine Dienste in Anspruch nehmen. Gerade die Menschen im Rentenalter gingen schon früh zum Friedhof, um alles in Ordnung zu bringen.
Als er den Taxistand anfuhr, freute er sich, dass dort nicht schon ein paar weitere Fahrzeuge standen. Er parkte, ließ die Standheizung an und schaltete das Radio ein. Ein tiefer Gongschlag signalisierte gerade den Beginn der Nachrichten. Er drehte das Radio etwas lauter.
Mit einem behaglichen Grunzen griff er unter den Fahrersitz und holte eine rote, mit bunten Blumen übersäte Thermoskanne
hervor. Er schraubte den tassenförmigen Deckel ab, goss sich einen dampfenden Kaffee ein und schlürfte vorsichtig vom Rand ein paar Schlucke ab.
Sein Blick fiel auf den martialischen Eingang zum Hauptfriedhof. Er konnte noch keine Besucher ausmachen. Auf der gegenüberliegenden Seite war die Verkehrsinsel mit der U-Bahn-Haltestelle der Linie U5. Zwar stand dort eine Vielzahl von Menschen. Das musste ihn aber nicht interessieren, da sie nicht als seine Kunden in Betracht kamen.
Plötzlich horchte er auf. In einer längeren Meldung teilte der Nachrichtensprecher mit, dass um Mitternacht ein Mann am Südbahnhof überfallen und zusammengeschlagen worden war. Die Polizei bitte die Bevölkerung, sachdienliche Hinweise der nächsten Polizeidienststelle mitzuteilen.
Ahmed El Nasri runzelte die Stirn. Letzte Nacht am Standplatz Südbahnhof, da war ihm tatsächlich etwas Besonderes untergekommen. Diese zwei Männer, die zu einem Auto gelaufen waren, hatten seine Aufmerksamkeit erregt. Genauer gesagt, war es weniger das Erscheinungsbild der Männer als vielmehr deren Fahrzeug selbst gewesen. Ahmed El Nasri war ein Autonarr, und dieser Wagen war wirklich sehenswert gewesen.
Er konnte sich selbst nicht so genau erklären, was an deren Verhalten auffällig gewesen war. Es war mehr ein Gefühl gewesen, dass etwas nicht stimmte. Wenn er allerdings jetzt zur Polizei gehen würde, gingen ihm vielleicht ein paar Kunden und damit ein Teil seines Tagesverdienstes verloren.
Außerdem erschien ihm fraglich, ob seine Beobachtung überhaupt reichte, um die Polizei zu benachrichtigen? Andererseits könnten die das bei der Polizei selbst beurteilen. Dann hätte er seine Pflicht getan.
Er schaltete den Motor an und fuhr zum neuen Polizeipräsidium in der nahe gelegenen Adickesallee. Um diese Zeit gab es noch kein Problem, auf dem Besucherparkraum vor dem Haupteingang einen Parkplatz zu finden.
Ahmed El Nasri stellte sein Taxi ab und ging auf das Gebäude zu. Noch niemals zuvor hatte er so nahe davorgestanden. Es wirkte bedrückend auf ihn, ja, fast bedrohlich. Ein mehrstöckiger Quader ohne jede auflockernde Ornamentik. Dazu noch ein grauer Grundfarbton, der eine gewisse Trostlosigkeit vermittelte. Gut, dass er dort nicht arbeiten musste.
Dem Bediensteten an der Pforte trug er den Anlass seines Kommens vor. Der junge Mann hinter der Glasscheibe überlegte eine Weile, blätterte dann ein Verzeichnis von Namen und Telefonnummern durch und griff zum Hörer.
Ahmed El Nasri konnte nicht hören, was gesprochen wurde. Er sah nur kurze Zeit später, wie sich der Blick des Mannes aufhellte und ein Lächeln seine Gesichtszüge entspannte. Endlich drückte der Mann eine Taste, legte den Hörer weg, wandte sich ihm wieder zu und deutete mit dem Zeigefinger nach rechts.
»Gehen Sie bitte hier durch die Personenvereinzelungsanlage ...«
»Durch die was, bitte?«
Der Bedienstete lachte auf. »Das ist ein Ausdruck aus unserer Beamtensprache. Entschuldigung! Ich meine die Drehkreuze da vorn. Dahinter nehmen Sie bitte den Fahrstuhl in den ersten Stock und gehen zu Zimmer 117. Auf dem Türschild steht der Name Köhler. Herr Köhler erwartet Sie.«
El Nasri bedankte sich und ging in die beschriebene Richtung. Er überlegte kurz, warum er nicht zum ersten Stock die Treppe nehmen sollte. Schließlich war er nicht fußkrank. Als er den endlosen eintönigen Flur entlangschaute, wurde ihm klar,
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