Das Kabinett der Wunder
Sonnenschein, den sie gesehen hatte, fiel durch die Dachfenster der Färberei.
Ihr Leben verlief nach einem immer gleichen Muster. Sie wachte im Morgengrauen auf. Zerpulverte Mineralien oder weichte Blumen in Wasser ein oder kratzte das Innere der Schalen von Meeresmuscheln aus. Die Farbstoffe hatten ihre Hände in interessanten Farben eingefärbt. Mittags aß sie mit Iris und versuchte verzweifelt zu vergessen, wie die Leute in der Küche Iris’ Essen behandelten. Abends aß Petra zusammen mit den anderen Dienstboten in deren Speisesaal. Sadi sah zu, dass sie möglichst in der Nähe war, und wachte über sie wie eine ältere Schwester. Sie brachte Petra bei, wie man Geld in die Röcke einnähte, damit es nicht gestohlen wurde. Eines Abends nahm Petra Nadel, Faden und Tomiks Kugeln mit auf den Abtritt. Dort versteckte sie die Kugeln im Saum ihres Kleids und hoffte,
dass sie da nicht zerbrechen würden. Obwohl Petra es immer noch hasste, Röcke zu tragen, musste sie jetzt zugeben, dass sie auch nützlich sein konnten.
Einige Dinge fingen nun an, schwer auf Petras Seele zu lasten. Obwohl die Diener alle einen kleinen Holzkasten für ihren wertvollsten Besitz zugewiesen bekommen hatten, machte sie sich Sorgen darüber, das Notizbuch ihres Vaters an einer solchen Stelle aufzubewahren, die leicht durchsucht werden konnte. Und sie fragte sich, ob Lucie und Pavel Prag bereits verlassen hatten. Hatte ihre Familie schon erfahren, dass sie sich irgendwo zwischen Tausenden von Menschen in der Stadt aufhielt? Sie wünschte, sie könnte einen Brief schreiben und ihnen erzählen, dass sie in Sicherheit wäre, doch sie wusste nicht so recht, wie sie ihn verschicken sollte. Alle Sendungen aus der Burg wurden gelesen und mit einem Salamandersiegel versehen, das verraten würde, wo sie war.
Was ihr jedoch am meisten Kummer bereitete, war, dass sie ihrem Ziel kein bisschen näher gekommen war. Sie hatte noch immer keine Ahnung, wo der Prinz die Augen ihres Vaters aufbewahrte. Sie hatte noch nicht einmal etwas von der Burg gesehen, außer den Dienstbotenquartieren und dem Denkerflügel.
Eines Morgens schlenderte Petra durch den Denkerflügel und summte eine Melodie vor sich hin. Die Türen rechts und links flankierten sie wie schweigsame Soldaten. Träge griff sie nach einem Türknauf, der klapperte, sich aber nicht bewegen ließ. Petra hörte auf zu summen, weil sie plötzlich die Melodie erkannte. Es war »Die Heuschrecke«,
das Lied, nach dem sie und ihr Vater vor zwei Jahren getanzt hatten.
Sehnsucht nach ihrem Zuhause überkam sie. Sie versuchte, das nicht zu beachten, und blickte den Denkerflügel entlang.
Bestimmt hatte ihr Vater hier in einem der Labors gearbeitet.
Petra probierte es an allen Türen, bis sie eine gefunden hatte, die unverschlossen war. Sie stieß sie auf und trat ein. Ein gewaltiger Stoß von ungeheurer Kraft traf sie von vorne. Astrophil quietschte auf und kniff sie ins Ohr. Sie wurde zurück in den Gang geschleudert und landete mit klappernden Zähnen auf dem Hintern. Bebend stand sie auf und wischte sich den Staub ab. Die geschlossenen Türen sahen so friedlich aus. »Ich hab keine Angst vor euch«, sagte sie zu ihnen.
Sprich nur für dich selbst , sagte Astrophil.
Nachdem Petra an einigen weiteren Türen gerüttelt hatte, drehte sich wieder ein Griff in ihrer Hand. Sie steckte einen Zeh durch den Spalt hinein, als wollte sie prüfen, wie kalt das Wasser des Teichs wäre. Sie und Astrophil seufzten erleichtert auf, als nichts geschah.
In diesem Labor befand sich ein Mann mit farbverschmierten Kleidern. Er starrte versunken auf eine Leinwand in der Größe einer Zimmerwand. Als er Petras Anwesenheit bemerkte, war er sehr freundlich und stellte sich selbst als Kristof vor, ein Künstler aus Polen. Doch er sprach kaum Tschechisch, und bald vergaß er, dass Petra im Raum war, und starrte wieder auf die vollkommen leere
Leinwand. Petra sah, wie er einen Pinsel benutzte, um rosa Farbe auf die Leinwand zu tupfen. Die Farbe verschwand sofort und die Fläche war so leer wie zuvor. Kristof sah erfreut aus, doch Petra war verwirrt. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie ein geistesabwesender Künstler und seine abwesende Kunst ihr bei ihrer Suche helfen könnten, und so ging sie nicht noch einmal in Kristofs Studio.
Jeden Tag versuchte sie es an den verschlossenen Türen, doch sie hatte weiterhin kein Glück. Sie wagte es auch, die Treppe zum nächsten Stockwerk emporzusteigen, doch die Wachen wehrten sie
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