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Das Kabinett der Wunder

Titel: Das Kabinett der Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Rutkoski
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hervor und zog ihn mit einem Ruck hinter sich zu. »Da wollen wir sie uns doch mal anschauen.« Als Petra vortrat, zeigte die Frau auf Susana. »Du! Such dir woanders was zu tun! Husch! Raus aus meinem Labor!«
    Susana warf Petra eine Blick zu, der besagte: »Tut mir leid, aber was kann ich machen?«, und huschte aus der Färberei.
    »Na, na, na. Was haben wir denn hier?« Die Frau trat dichter an Petra heran, hielt aber einen Abstand von zwei Fuß zwischen ihnen ein. »Hände!«

    Völlig verunsichert blieb Petra unbeweglich stehen.
    »Hände, hab ich gesagt! Streck sie aus.«
    Petra hob die Hände und streckte sie langsam der schneeglöckchenweißen Frau entgegen.
    »Nicht so dicht, du Kellergöre! So. Nun dreh sie um.Ah, gute Hände. Sehr gut, glaube ich.« Sie wandte ihre Aufmerksamkeit Petras Gesicht zu. »Annehmbare Farbe. Das nette hübsche Rosa des Landlebens. Du siehst aus, als wärst du gesund.«
    »So sagt man.« Petra dachte an Harold Listeks Gerede. »Was tragt Ihr da im Gesicht?«
    »Und das Mädchen ist auch noch höflich!« Die Augen der Frau wirkten hinter den Gläsern wie zwei neblige Teiche, doch Petra meinte, eine Augenbraue zucken gesehen zu haben. »Das ist eine Brille. Gibt es keine Brillen in deinem hinterwäldlerischem Zuhause?«
    »Wofür ist die?«
    »Wofür? Offensichtlich hilft sie mir beim Sehen. Aber das ist keine gewöhnliche Brille. Komm her.« Sie winkte Petra zu einem Tisch und tippte mit der Fingerspitze an einen Eisentopf, der bis zum Rand mit einer Flüssigkeit gefüllt war. »Für welche Farbe ist dieser Farbstoff?«
    »Blau.«
    »›Blau‹, sagt sie! Versuch es noch mal.«
    »Ah, Hellblau?«
    Die Frau setzte schnell die Brille ab und warf sie auf den Tisch. »Nimm sie.« Sie war sehr schwer. »Jetzt guck noch mal.«
    Petra hakte sich die Drahtbügel hinter den Ohren fest
und blickte in den Topf. In der Flüssigkeit wimmelte es von Farbflecken - rote Teilchen, weiße Streifen, grüne Tupfer und ein dickes Klümpchen von Violett.
    »Verstehst du?«, krähte die Frau. »Da hast du die genauen Anteile der verschiedenen Farben, die zusammen diese Blauschattierung ergeben. Du kannst zwar sehr richtig sagen, dass der Topf hellblauen Farbstoff enthält, doch denk mal daran, wie viele Hellblaus es gibt! Ein Rotkehlchenei, der Frühlingshimmel und ein Aquamarin sind alle hellblau. Doch was für ein Unterschied besteht jeweils zwischen den drei Farben!«
    Petra sah zu, wie die Farben wogten und sich wie eigenartige Fische vermischten. »Das ist erstaunlich.«
    Vielleicht erkannte die Frau am Klang von Petras Stimme, dass da jemand war, der gute Arbeit und Schönheit beurteilen konnte, denn sie nickte. Petra legte die Brille wieder auf den Tisch. Die Frau zwinkerte und ihre Augenlider flatterten wie zwei staubige Motten. Dann setzte sie die Brille wieder auf, wandte sich zu Petra und blieb ganz still stehen.
    Sie blickte Petra so intensiv ins Gesicht, dass es dem Mädchen unbehaglich wurde. Doch nach ein paar Sekunden senkte sie den Blick und es zuckte um ihren Mund. So seltsam ihr das auch vorkam, aber Petra hatte den Eindruck, dass sie gerade eine Prüfung bestanden hatte, ohne zu wissen, worin sie eigentlich geprüft worden war.
    »Ich nehme an, sie haben dir jede Menge wirres Zeug darüber erzählt, dass ich eine alte Todesfee bin, die Dienerinnen lebendig auffrisst und eine brennend ätzende Haut hat.«

    Wenn Petra von Susanas Erzählungen eingeschüchtert gewesen war, verspürte sie nun kein bisschen Angst mehr. Vielleicht lag das daran, dass sie sich, als sie durch die Brille der Frau geblickt hatte, wie zu Hause gefühlt hatte, als hätte sie einen Kollegen ihres Vaters besucht. So sagte sie ganz offen: »Ja, haben sie.«
    »Also, es stimmt alles. Außer der Sache, dass ich dich lebendig auffressen würde. Aber ich verspreche dir, ich schmeiß dich nach gute alter Sitte auf der Stelle raus und ich werfe einen Topf oder so was nach dir, wenn mir danach zumute ist. Nichts für ungut, du verstehst schon. Es ist einfach so, wie es ist.«
    »Solange Ihr nichts dagegen habt, wenn ich zurückschmeiße, kann ich damit leben.«
    »So eine Frechheit! Du hast Glück, dass eine Berührung meiner Hand dazu führen kann, dass sich dir die Haut vom Gesicht schält, sonst würde ich dich dafür ohrfeigen.«
    »Also sondert Eure Haut tatsächlich Säure ab?« Petra war fasziniert.
    »Warum glaubst du denn, brauche ich eine Helferin? Natürlich ist es nicht so, dass meine Haut immer ätzend ist,

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