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Das Kabinett der Wunder

Titel: Das Kabinett der Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Rutkoski
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roten Farbstoff her. Karmesinrot. Er wird gebraucht, um die Samtschärpe des Prinzen zu färben. Also muss er perfekt sein. Das hier« - sie deutete auf das Gefäß mit den Insekten - »sind Kermeskäfer. Sie sind von immergrünen Eichen gesammelt worden. Du wirst sie jetzt zerstoßen.«
    »Aber sie sind nicht rot.«
    Iris’ Gesicht wirkte angespannt, als wollte sie gleich losschreien. »Nein«, sagte sie durch die zusammengebissenen Zähne, »sind sie nicht. Aber wenn man sie lebendig pulverisiert, ist ihr Blut rot, und von einem ganz besonderen
Rot noch dazu. Also, wenn du sie jetzt gefälligst aus dem Gefäß in den Mörser schütten könntest. Und sieh zu, dass du sie schnell zermahlst, denn sie sind teuflisch flink.«
    Und so trat Petra ihre zweite Arbeitsstelle an diesem Tag in der Burg mit einem Hochgefühl an. Man könnte nun einwenden, dass Käfer zu zermahlen, nicht viel vergnüglicher ist, als Zwiebeln zu schneiden, und das mag auch stimmen. Doch Petra war sicher, dass die Arbeit für Iris zumindest alles andere als langweilig sein würde.
     
     
    Petra hatte vor Müdigkeit schon ganz kleine Augen, als sie zusammen mit anderen Mädchen zum Schlafsaal der Frauen ging. Das war eine große Halle voller Pritschen, auf denen bereits einige Mädchen schliefen. Sie durchstreifte die Halle auf der Suche nach einem freien Bett und hoffte dabei, Sadi oder Susana zu treffen. Schließlich entdeckte sie Susana, doch die hatte sich bereits zusammengerollt und schlief fest.
    Petra war erleichtert, als sie Sadi sah, die winkte und auf die Pritsche neben sich klopfte. Petra kuschelte sich unter die Wolldecke. Die Pritsche war keineswegs die stabilste, doch sie wirkte ziemlich sauber und bequem. Irgendjemand blies die Kerzen aus. Während ein Geruch nach Wachs und Rauch den Raum durchzog, erzählte Petra leise flüsternd Sadi von ihrem Tag. Sadi hatte den größten Teil des Nachmittags die Schlafgemächer für die geladenen Gesandten zu richten gehabt, sodass ihr eigener Bericht nicht so interessant war wie Petras - eben einfach nur langweiliges Bettlakenwechseln und Staubwischen.

    Als Petra in der Dunkelheit Sadis Stimme lauschte, fiel ihr auf, wie ausgezeichnet sie Tschechisch sprach - als hätte sie es von Geburt an gelernt. »Woher sprichst du so gut Tschechisch? Neel spricht ganz anders, irgendwie lustig.«
    »Wenn er wollte, könnte er so sprechen wie ich«, flüsterte Sadi zurück. »Wir sind im Lernen von Sprachen beide ziemlich gut, denn wir haben in so vielen verschiedenen Ländern gelebt.«
    »Bist du hier geboren worden?«
    »Nein, in Spanien. Wenn Leute fragen, warum meine Haare und Augen so dunkel sind, dann sage ich, dass mein Vater Spanier war. Über meine Mutter sage ich nichts. Sie nehmen dann an, dass sie eine Böhmin ist.«
    »Ist Neel auch in Spanien geboren?«
    Es blieb kurz still. »Wir nehmen an, dass er in Böhmen geboren worden ist.«
    »Ihr nehmt es an?«
    Sadi schwieg und Petra hörte das rasselnde Schnarchen einer Frau neben ihr. Dann kam Sadis gedämpfte Antwort: »Neel ist als Baby ausgesetzt worden. Er lag in der Nähe unseres Lagers. Zuerst wollte ihn niemand nehmen, vor allem weil er keinen Nachweis um den Hals trug.«
    »Nachweis?«
    »Eine Schnur. Oder einen Lederstreifen mit einem Ring oder einem Stein daran. Irgendetwas, das bedeutet, dass ein Vater ein Kind als seines anerkannt hat. Neel war einfach nur in eine blaue Decke eingewickelt, ohne Kleider oder irgendetwas sonst. Ich war damals noch sehr klein. Ich
kann mich kaum daran erinnern. Aber meine Mutter hat ihn genommen.«
    »Eine blaue Decke? Heißt er deshalb Neel? Er hat gesagt, das bedeutet ›blau‹.«
    »Stimmt. Es heißt ›blau‹. Doch sein voller Name bedeutet etwas anderes, etwa ›ein Stein, der blau ist‹. Indraneel heißt ›Saphir‹.« Sadi schwieg kurz. Dann sagte sie: »Petra, erwähne ihm gegenüber nichts davon. Er mag nicht daran denken. Oder darüber reden. Ich bin seine Schwester. Unsere Mutter ist unsere Mutter. Ende der Geschichte. In Ordnung?«
    »Ja.« Petra seufzte. Es sah so aus, als würden ihr die Menschen ständig Dinge erzählen, die sie für sich behalten sollte. Manchmal war es nicht so einfach, sich nicht wie ein Sorgenfläschchen auf zwei Beinen vorzukommen.

Iris’ Erfindung
    MEHR ALS zwei Wochen waren vergangen. Petra fühlte sich wie ein höhlenbewohnender Vogel. Sie hatte bislang nicht einen einzigen freien Moment gehabt, um einen Schritt vor die Burg zu treten, und der einzige

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