Das Kabul-Komplott - Bannel, C: Kabul-Komplott
Gegen drei Uhr morgens wachte er auf und, wie so oft, war ihm während seines unruhigen Schlafes jedoch eine zündende Idee gekommen. Beinahe beschwingt stand er auf. Gleich nach seinem Eintreffen im Kommissariat versuchte er, die Telefonnummer von Galina Bosnikowa herauszufinden, einer jungen Polizistin, mit der er während seines Aufenthalts in Moskau zusammengearbeitet hatte. Eine charakterstarke Frau, die ihn sehr beeindruckt hatte. Obwohl seitdem schon viele Jahre vergangen waren, brauchte er weniger als eine Stunde, um ihr wieder auf die Spur zu kommen, denn sie arbeitete noch immer in derselben Dienststelle. Was für ein Glück! Er sprach ein stummes Dankgebet.
Galina mochte ihn, er hatte zeitweilig vermutet, dass sie ihn sogar attraktiv fand, doch hatte er derlei Gedanken schnell verdrängt, denn Untreue war in den Augen seiner Religion ein Verbrechen.
»Osama!«, rief sie, als er seinen Namen genannt hatte. »Ich habe mich oft gefragt, was wohl aus dir geworden ist. Seit dem 11. September ist dein Leben sicher die Hölle, was? Hast du den Vornamen nicht gewechselt?«
»Ich habe es nicht versucht. Ich muss mich irgendwie damit arrangieren. Klar, wenn ich in den USA lebte, wäre die Situation schwieriger …«
Galina erzählte ihm, sie sei mittlerweile zur Oberinspektorin aufgestiegen und müsse sich nun intern um eine Stelle als Kommissarin bewerben. Sie arbeite bis zum Umfallen dafür. Man hatte sie der Einheit, die sich mit Vergewaltigungen befasste, zugeteilt, was besonders anstrengend war, da infolge der Wirtschaftskrise und des zunehmenden Alkoholismus das Durchschnittsalter der Opfer immer mehr sank.
»Aber sag schon, Osama, was verschafft mir die Ehre deines Anrufs?«
»Ich brauche deine Hilfe«, gestand er ihr. »Ich stecke gerade in den Ermittlungen zu einem verdächtigen Selbstmord undmöchte mit einem Test nachweisen, dass auf den Händen des Opfers kein Schießpulver zurückgeblieben ist. Mir fehlt allerdings das notwendige Material, und es dauert zu lange, bis ich es mir auf offiziellem Weg beschafft habe. Könntest du mir vielleicht die Tests besorgen?«
»Ich denke schon«, sagte Galina, nachdem sie kurz überlegt hatte. »Eine Freundin von mir arbeitet bei der Mordkommission, die haben solche Kits. Ich kann sie um ein paar davon bitten und sie dir schicken lassen. Warte, bleib mal dran, ich rufe sie von einem anderen Telefon aus an.«
Osama lehnte sich weit zurück. Wie großartig, auf die Hilfe der UNO bauen zu können. Früher hätte er niemals von seinem Büro aus einen internationalen Anruf tätigen können, während jetzt alle Fahnder in der ganzen Welt herumtelefonieren konnten. Kurz darauf war Galina wieder am Apparat.
»Ich habe sie erreicht, sie ist einverstanden. Das einzige Problem ist, dass das Haltbarkeitsdatum der Kits, die ihr zur Verfügung stehen, diese Woche abläuft. Sie meint aber, das habe keinen Einfluss auf das Ergebnis, sie blieben mindestens sechs Monate darüber hinaus haltbar. Wenn du neue Tests brauchst, könnte es mehrere Wochen dauern, du kennst ja die russische Bürokratie …«
»Das passt wunderbar«, versicherte Osama, »ich schicke dir meine Adresse hier auf dem Kommissariat. Schreibe aber bitte ›persönlich‹ auf den Umschlag.«
»Kommt die Post in Kabul denn ganz normal an? Soll ich sie dir nicht lieber per Diplomatengepäck schicken?«
»Die Post kommt ganz normal an, es gibt mehrere Flüge zwischen Kabul und Moskau, ich bekomme die Sendung ganz bestimmt.«
Osama legte auf. Es war nach wie vor ungewohnt, dass eine gewisse Normalität in seinen Alltag zurückgekehrt war: Das Telefon funktionierte ohne Zensur, die Post wurde zu festgelegten Zeiten in der ganzen Stadt ausgetragen, man konnte sich überallfrei bewegen, es gab keine Bombardierungen mehr. Das war eine völlig neue Situation, nicht vergleichbar mit den Zuständen, die er seit seiner frühesten Jugend kannte. Alle Afghanen hatten sich mit einer eingeschränkten Freiheit abgefunden und damit, dass jeden Augenblick Gewalt ausbrechen konnte. Die Normalität war wie ein Nebel, ein seltsames Gefühl zwischen Fremdheit und Altbekanntem, ein fragiles Gleichgewicht, das jeden Moment wieder aufgehoben sein konnte.
Er sah auf die Uhr. Zeit, um gemeinsam mit seiner Mannschaft die neuesten Ergebnisse ihrer Recherchen zu besprechen. Er bestellte seine Mitarbeiter in den Konferenzraum neben seinem Büro, einen abbruchreifen Raum, dessen einziger Luxus ein Heizofen und ein Getränkeautomat
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