Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
jüngerer Halbschwester Isabel, die diesem auf den Thron folgte.«
Fast ein wenig zaghaft trat Isaura in die Kapelle, die ein wunderschönes Beispiel gotischer Architektur bot, in der nur der fein bearbeitete Stein in seiner reichen Formensprache den Raum erfüllte. An den Wänden reihten sich Nischen in der Form geschlossener, gotischer Fensterbogen mit Gräbern an ihrer Basis, auf denen je eine Skulptur des Verstorbenen aus Alabaster ruhte. Isauras Blick strich über die feinen Gesichtszüge von Elvira de Acevedo, Saldañas Gemahlin. Es sah aus, als würde sie nur ruhen. Ihr Haar, ihr Schmuck, die Verzierungen ihres Kleides sahen so lebendig aus, dass man sie berühren mochte.
Warum nur fühlte sie sich so seltsam? Die Wellen schlugen höher wie schäumende Wogen einer stürmischen See. Plötzlich schien sich der Raum zu verdüstern. Isaura blinzelte. War die Sonne wieder hinter den Wolken verschwunden? Aber konnte es gleich so finster werden? Es war, als wäre die Nacht in einem Augenblick über sie hereingebrochen. Oder war sie so lange in der Betrachtung der schönen, jungen Frau aus Alabaster versunken gewesen?
Sie sah sich um. Die Nonne war verschwunden. Dafür sah sie eine andere Gestalt, ebenfalls in Schwarz gekleidet. Obgleich sie nur ihren Rücken sehen konnte, wusste Isaura, wer sie war: die dunkle Königin, ihre Begleiterin, Nacht für Nacht. Sie kniete vor einem Sarg, vom Leid niedergedrückt. Sie weinte nicht. Sie war längst jenseits aller Tränen. Ja, Isaura verstand nun, was der Ausdruck »von Kummer gebrochen« meinte. Sie wollte näher treten und trösten, auch wenn sie wusste, dass es für diesen Schmerz keinen Trost gab. Nur eine Hand und eine Schulter und ein Herz, das mit dem Trauernden litt.
Zaghaft näherte sie sich der Frau, die jedoch unvermittelt verschwand. Stattdessen stand ein anderer Sarg vor ihr. Isaura betrachtete ihn verwirrt, doch dann begriff sie, dass das Leiden endlich ein Ende gefunden hatte. Sie stand am Sarg der dunklen Königin!
»Isaura? Was ist mit Ihnen? Fehlt Ihnen etwas?« Sie hörte die Stimme nur von fern und konnte sie nicht recht zuordnen. Natürlich fehlte ihr etwas. Hier lag die Frau, die sie Nacht für Nacht begleitete. Deren Finsternis und Leid sie geteilt hatte.
»Isaura, wo sind Sie?« Die Stimme wurde eindringlicher. Das Bild verschwamm vor ihren Augen, und dann war der Sarg verschwunden.
»Die dunkle Königin«, stammelte Isaura verwirrt. »Sie hat am Sarg ihres Mannes geweint. Sie ist an seinem Tod verzweifelt, und nun ist sie ebenfalls tot. Ihr Sarg, wo ist ihr Sarg?«, rief sie und drehte sich ein paarmal im Kreis, bis Maria Anna nach ihrer Hand griff.
»Beruhigen Sie sich!«, sagte sie, und der Klang ihrer Stimme holte Isaura vollends in die Gegenwart zurück. Die Sonne schien wieder und ließ die Scheiben der Fenster erglühen.
»Die dunkle Königin?«, wiederholte die Nonne und sah sie mit einem eigenartigen Blick an. »Ja, es gab hier eine Königin, die den Tod ihres Gatten beweinte. Juana, die Tochter Isabels und Fernandos, der katholischen Könige. Ihr Mann, Philipp der Schöne, starb jung nach nur wenigen Jahren Ehe, und sie konnte seinen Tod nicht verwinden. Sie hat ihn über alles geliebt, sagt man.«
»Und sie? Juana?«
»Sie starb in Tordesillas, und ihr Sarg stand hier in der Kapelle, bis ihr Enkel Philipp II. ihn 1574 nach Granada überführen ließ, wo sie nun bei ihren verehrten Eltern und ihrem geliebten Mann ruht.«
»Das ist gut so«, stieß Isaura aus tiefstem Herzen aus, auch wenn sie nicht wusste, warum ihr das so wichtig erschien. Noch immer ein wenig benommen folgte sie Maria Anna zurück in den Gästetrakt. Die junge Schwester brühte Tee auf und setzte sich dann ebenfalls mit einer Tasse zu ihr. Sie schwiegen beide und sahen in ihre dampfenden Tassen herab, von denen der Duft verschiedener Kräuter aufstieg. Isaura wusste nicht, welche, doch es war ein beruhigender Duft, der nach daheim roch.
Daheim? Sicher nicht nach ihrer Wohnung in München!
Daheim in Großtante Carmens Häuschen? In ihrem Häuschen, wo der Kater sicher schon auf seine Abendmahlzeit wartete?
»Ich glaube, ich sollte jetzt gehen«, sagte sie, als sie die Tasse geleert hatte.
»Sollten?« Die junge Schwester überlegte. »Nein, das würde ich so nicht sagen. Sie können sich frei entscheiden. Sie sind herzlich eingeladen, die Nacht hier in einem der Gästezimmer zu verbringen. Ja, Sie dürfen bleiben, solange Sie es wünschen und das Gefühl
Weitere Kostenlose Bücher