Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
Furcht?
Kindisch? Sie war hier nachts mutterseelenallein in einem baufälligen Häuschen irgendwo in Spanien. Da war ein wenig Angst sicher berechtigt.
Doch nein, sie fürchtete sich nicht vor einem Einbrecher, und sie hielt auch nicht nach einem Kerl in abgerissenen Kleidern mit einer Brechstange in der Hand Ausschau. Sie suchte nach einer schattenhaften Frau in einem langen Gewand, die nicht aus dieser Zeit zu sein schien.
»So ein Unsinn!«, schalt sie sich selbst und zog mit einer energischen Bewegung die Vorhänge zu. Sie überprüfte den vorgeschobenen Riegel an der Haustür und schloss auch die Vorhänge im Wohnzimmer, sodass sie niemand vom dunklen Hof aus im erleuchteten Haus beobachten konnte.
»Es könnte ja ein Hase über den Hof schleichen oder ein Fuchs«, versuchte sie ihre innere Unruhe lächerlich zu machen. Sie lauschte dem Wind und dem Knarren oben im Gebälk. So viele Geräusche. Mit einem Seufzer gestand sie sich ein, dass sie an Schlaf gar nicht zu denken brauchte. So holte sie sich Carmens alten, warmen Bademantel, schlüpfte hinein und zog sich noch ein paar wollene Socken über die nackten Füße. Dann setzte sie sich im Wohnzimmer auf das durchgesessene Sofa und zog die beiden Kartons aus Großtante Carmens Arbeitszimmer zu sich heran, deren Inhalt sie hatte durchsehen wollen – damals, vor zwei Tagen, bevor durch Justus ihre Welt zum zweiten Mal aus den Fugen geraten war. Ach, wäre er doch nie nach Spanien gekommen. Dann würde sie hier jetzt wohlig und geborgen in ihrem Häuschen sitzen in der hoffnungsfrohen Erwartung, dass alles wieder gut werden würde.
Närrin! Dies Gejammer ist deiner nicht würdig. Du brauchst deine Kräfte für dich und die Aufgaben, die vor dir liegen. Ein Mann wie Justus passt nicht zu deinem Leben. Es ist tragisch, was ihm widerfahren ist, aber alles in allem solltest du froh sein, dass du ihn los bist.
Die Mappe fiel Isaura aus den Händen. Was war das nur für eine Stimme in ihrem Kopf? Sie kannte sie nicht, und dennoch war sie ihr vertraut. Es war die Stimme einer alten Frau, die nicht aufhören wollte, sie zu quälen.
Ich will dich nicht quälen. Ich will dir helfen!
Obgleich die Stimme nun warm und liebevoll klang, ängstigte sich Isaura noch mehr. Vielleicht wurde sie verrückt? Ja, das war die einzig mögliche Erklärung. Sie hatte irgendeine Störung, deshalb wusste sie auch nicht mehr, was sie nach dem Unfall getan hatte. Vermutlich war sie selbst es gewesen, die den Unfall verursacht hatte. Vielleicht hatte sie ihm in ihrem Zorn ins Lenkrad gegriffen oder die Handbremse angezogen und den Wagen damit ins Schleudern gebracht. Und nun weigerte sich ihr Gedächtnis, diese Erinnerung herauszugeben, um ihr die Schuldgefühle zu ersparen. Vielleicht sollte sie einen Therapeuten aufsuchen oder irgendeinen Psychologen.
Du brauchst keinen Seelendoktor, du musst nur endlich aufhören, dich gegen das zu wehren, was du doch längst weißt!
Nun klang die Stimme eindeutig verärgert. Isaura biss die Zähne zusammen und sammelte die Zeitungsausschnitte vom Boden auf, die aus der Mappe gefallen waren. Sie legte sie sauber übereinander, bis ihr eine Überschrift ins Auge fiel. Sie hielt inne und begann zu lesen. Dann überflog sie den nächsten Artikel und noch einen. Auf den ersten Blick schienen sie nichts miteinander zu tun zu haben. Die Ereignisse hatten sich an ganz unterschiedlichen Orten zugetragen, und auch die Erscheinungsdaten lagen oft weit auseinander. Mal ging es um einen Unfall, dann wieder um eine unerwartete Heilung. Doch Isaura kam für ihren Geschmack fast zu schnell dahinter, was diese Geschichten miteinander verband. Mal war von einem Fluch die Rede oder von einem schwerem Schicksal, dann wieder wurde ein Wunder gefeiert oder die Hand Gottes. Aber es ging immer um außergewöhnliche, ja, mit dem normalen Menschenverstand nicht erklärbare Vorfälle. Isaura schloss die Augen. Wieder splitterte das Glas, sie hörte Justus’ Schrei und spürte, wie das Auto ins Schleudern geriet.
Das Splittern von Glas.
Dieses Mal nicht in ihren Gedanken, sondern ganz real und sehr nah! Isaura sprang auf, und wieder verteilten sich die Zeitungsausschnitte über den Boden. Woher war das Geräusch gekommen? Sie rannte in die Küche. Die Tür zur Speisekammer stand halb offen. Wieder ein Klirren. Isauras Magen verkrampfte sich in der Furcht, was sich ihr gleich für ein Bild bieten würde, dennoch stürzte sie vor, riss die Tür vollends auf und schaltete
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