Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
statt Auge um Auge zu fordern.«
»Es sei denn, jemand wagt ein Auge auf die Dame seiner Wahl zu werfen. Da kann selbst er zum Scharfrichter werden«, murmelte Beatriz und erntete von Isabel einen scharfen Blick.
»Wir wissen alle, dass er damit nicht recht gehandelt hat, aber das ist jetzt nicht das Thema. Die Frage lautet: Haben sich Carrillo und der Marquis ausgesöhnt, und was bedeutet das für Alfonso und für den König?«
Sie rauschte davon und war auch am Abend während des Mahls ungewöhnlich schweigsam. Jimena konnte spüren, wie es in ihr arbeitete, und fast fürchtete sie die Entscheidung, die hinter der entschlossenen Miene reifte. So war sie im Gegensatz zu Beatriz nicht sonderlich erstaunt, als Isabel vor dem Zubettgehen verkündete:
»Ich will meinen Bruder sehen und mit ihm sprechen!«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Marquis Alfonso nach Segovia bringt«, meinte Beatriz, die ihr beim Auskleiden half.
»Nein, das denke ich auch nicht«, bestätigte Isabel.
»Sie will nach Ávila reisen«, erklärte Jimena, als Beatriz sie erstaunt ansah.
»Das ist ein Scherz«, vermutete die Freundin.
Jimena schüttelte mit einem Seufzer den Kopf. »Nein, das ist ihr bitterer Ernst.«
»Ach, und du glaubst, man würde uns so einfach gehen lassen?«, konterte Beatriz. »Selbst wenn der König nicht da ist, wird keiner der anwesenden Granden so leichtfertig sein, dir Geleit nach Ávila anzubieten. Und die Königin brauchst du auch nicht zu bitten. Sie ist dir zwar nicht gerade in Liebe verbunden, aber sie würde sich nicht den Zorn des Königs aufs Haupt laden, indem sie dich geradewegs in die Höhle des Löwen – will sagen: des Erzbischofs – marschieren lässt.«
»Ich habe auch nicht vor, jemanden zu fragen, der es mir verbieten würde«, gab Isabel zurück.
Jimena nickte. »Das habe ich mir fast gedacht. Auf mich jedenfalls kannst du zählen.«
»Was? Wir sollen heimlich nach Ávila reisen? Das sind zwei Tagesmärsche!«, rief Beatriz und wich entsetzt zurück.
»Du musst ohnehin hierbleiben«, bestimmte Jimena, »und auf Teresa aufpassen, bis wir zurück sind.«
Teresa, die den Wortwechsel wieder einmal aufmerksam verfolgt und offensichtlich auch verstanden hatte, griff nach Jimenas Hand und sah sie flehend an.
»Nein, du kannst nicht mitkommen«, lehnte diese ab. »Dominga würde es mir nicht verzeihen, sollte dir etwas zustoßen.«
Was ihre Tante überhaupt von diesem verbotenen Vorhaben halten würde, darüber dachte sie lieber nicht nach. Beifall finden würde es jedenfalls nicht, das war Jimena klar, aber war es nicht ihre Pflicht, an Isabels Seite zu bleiben, ganz gleich, wie gefährlich ihr Plan war?
Es wäre deine Pflicht, sie davon abzuhalten!, flüsterte eine innere Stimme, die sie sich zu überhören bemühte. Wer war sie schon, dass sie der Infantin hätte Vorschriften machen können? Und außerdem lockte das Abenteuer. Was würde sie in Ávila erwarten?
Und so reisten am nächsten Morgen zwei einfach gekleidete Mädchen auf schäbigen Zeltern gen Westen, die Gesichter hinter ihren Schleiertüchern verborgen. In den Klöstern an ihrem Weg bekamen sie zu trinken und ein einfaches Mahl und fanden auch ein hartes Nachtlager. So erreichten sie unbehelligt am Abend des zweiten Tages die Stadt Ávila.
Was für eine wehrhafte Ansiedlung! Staunend ritten die beiden jungen Mädchen in gebührendem Abstand an der Nordseite der Stadt entlang. War Jimena bereits Segovia uneinnehmbar erschienen, so war Ávila eine einzige Festung. Die Mauer war hoch und mächtig, aus festem Stein errichtet und mit Mörtel zusammengefügt. Jimena konnte die Zinnen nicht zählen, hinter denen ein Wehrgang rund um die Stadt führte. Und dann erst die Türme! In regelmäßigen Abständen, kaum ein paar Dutzend Schritte voneinander entfernt, ragten die halbrunden Türme hervor, sodass die Bogenschützen jeden Winkel außerhalb der Mauer mit ihren Pfeilen bestreichen konnten. Nein, hier hatte kein Feind auch nur die leiseste Chance, lebend mit einer Sturmleiter nahe genug an die Stadtmauer heranzukommen. Selbst der Chor der Kathedrale am höchsten Punkt im Osten der Stadt war mit in die Mauer eingebunden, sodass das Gotteshaus seinen Anteil an der Verteidigung der Stadt hatte.
»So viele Türme«, hauchte Jimena, als sie die Nordwest ecke der Stadt erreichten, wo die Mauer in einem rechten Winkel nach Süden abbog und die Schmalseite der Stadt dem Ufer des Río Adaja folgte, bis sie dann wieder nach Osten
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