Das Kastler-Manuskript - Ludlum, R: Kastler-Manuskript - THE CHANCELLOR MANUSCRIPT
Kirche, sprach das Eröffnungsgebet. Dem schloß sich Warren Burger an, der mit seiner Elogie begann. Varak hörte die Worte, und seine Kinnmuskeln spannten sich.
»... ein Mann voll stiller Courage, der nie bereit war, seine Prinzipien dem Geschrei der Öffentlichkeit zu opfern ... der seinem Land diente und sich die Bewunderung aller verdiente, die an geordnete Freiheit glaubten.«
Wessen Prinzipien? Was ist geordnete Freiheit? überlegte Varak und blickte auf die Szene hinunter. Doch für solche Gedanken war jetzt nicht die Zeit. Er flüsterte dem Kameramann etwas zu; diesmal bediente er sich der tschechischen Sprache. »Alles in Ordnung?«
"Ja, wenn ich keine Krämpfe bekomme.«
»Sie müssen sich hin und wieder strecken, aber sie dürfen nicht aufstehen. Ich löse Sie alle vier Stunden auf dreißig Minuten ab.
Benutzen Sie das Zimmer am zweiten Gang; ich bringe Ihnen zu essen. «
»Auch nachts?«
»Dafür bezahlt man Sie. Ich möchte das Gesicht jedes einzelnen, der durch die Bronzetüren kommt. Jedes einzelne verdammte Gesicht. «
Jenseits der hallenden Worte, welche die Kuppel erfüllten, konnte er jetzt ein anderes Geräusch hören. Weit in der Ferne, draußen, hinter Barrikaden im Regen, auf der anderen Seite des Platzes hatten die Kriegsdienstverweigerer jetzt ihr eigenes Totenlied begonnen. Nicht für die Leiche unter ihm in der Rotunde, sondern für Tausende auf der anderen Seite der Welt, ein liturgisches Drama wurde in bitterer Ironie aufgeführt.
»Jedes Gesicht«, wiederholte Varak.
Das von dem Springbrunnen in die Höhe geschleuderte Wasser fiel in Kaskaden in den kreisförmigen Teich im Garten vor der presbyterianischen Kirche herunter. Hinter dem Springbrunnen ragte der weiße Marmorturm in bescheidenem Glanz in die Höhe. Zur Rechten führte die zweispurige Fahrbahn unter einem steinernen Säulenbogen hindurch, während links eine Türe in die Kirche führte. Das Ganze wirkte eher wie eine Kasse, an der man Wegezoll entrichten mußte, nicht wie ein geschützter Eingang in das Haus Gottes.
Varak hatte seine Kameras in Position gebracht und die beiden erschöpften Kameraleute mit Kaffee und Benzedrin vollgepumpt. In ein paar Stunden würde alles vorüber sein. Beide würden viel reicher sein als ein paar Tage vorher; beide würden nach Hause fliegen. Einer nach Prag, einer nach Marseille.
Die Limousinen trafen ab neun Uhr fünfundvierzig ein; das Begräbnis war für elf Uhr angesetzt. Der Tscheche war draußen; diesmal war der Franzose derjenige, der unter ungünstigen Bedingungen arbeiten mußte; er kniete — aber nicht im Gebet — in einer etwas erhöhten Türnische links vom Altar. Er und seine Kamera waren von schweren Vorhängen verborgen; die offiziell aussehende Identifizierungsmarke, die an seiner Brusttasche steckte, trug den Stempel der Archivabteilung.
Niemand äußerte Zweifel an der Marke; niemand wußte, was sie zu bedeuten hatte.
Die Trauernden verließen ihre Wagen und schoben sich nach innen; die Kameras liefen. Die feierlichen Klänge der Orgel erfüllten die Kirche. Ein Militärchor von fünfundzwanzig Männern
in goldbetreßten, schwarzen Uniformröcken marschierte wie Schlafwandler in das Chorgestühl.
Der Gottesdienst begann. Endlose Worte aus dem Mund jener, die liebten, und jener, die haßten. Gebete und Pslamen, Rezitationen und Zitate. Irgendwie kalt, zu gelenkt, dachte Varak. Nicht, daß es ihm etwas bedeutete; die Kameras liefen.
Und dann hörte er die vertraute, scheinheilige Stimme des Präsidenten der Vereinigten Staaten, deren besonderer Tonfall dem Anlaß angepaßt war. Ein atemloses, hohles Echo.
»Der Trend alles verzeihender Nachgiebigkeit, ein Trend, der auf gefährliche Weise das Erbe unserer Nation als eines gesetzestreuen Volkes angenagt hat, wird sich jetzt wenden. Das amerikanische Volk ist heute der Respektlosigkeit gegenüber dem Gesetz müde. Amerika möchte zum Gesetz als Richtschnur seines Lebens zurückkehren ...«
Varak wandte sich ab und verließ die Kirche.
Es gab Besseres zu tun. Er überquerte den geschnittenen Rasen, ging vorbei an einer Reihe von Frühlingsblumen zu einem mit Schieferplatten belegten Weg, der zum Springbrunnen führte. Er setzte sich auf den Brunnensims und spürte den feuchten Nebel im Gesicht. Er holte einen Stadtplan aus der Tasche und studierte ihn.
Ihr letzter Haltepunkt war der Kongreßfriedhof. Sie würden vor dem Leichenzug eintreffen und ihre Kameras so aufbauen, daß man sie nicht sehen konnte.
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