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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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sind kleinere bauliche Veränderungen geplant. Wenn wir uns sehen, geben wir uns meist ein kurzes Zeichen. Es sind Zeichen eines (wie ich mir einrede) tiefen Einverständnisses, und sie kommen mir so vor, als wären es Zeichen von zwei Menschen, die sich ununterbrochen sehen und sich auf jedes spätere Wiedersehen freuen.

    Einmal kommt sie an einem Nachmittag mit etwas Tee zu mir hinauf auf mein Zimmer. Sie sagt, dass Maria ihr von den Teegesprächen mit mir erzählt habe. Ich vermute kurz, dass Paula auch von mir befragt werden will, verwerfe diesen Gedanken dann aber sofort wieder. (Mein Gott, welche Fehler mir manchmal unterlaufen! Natürlich hat Paula nie daran gedacht, an diesem Forschungsprojekt teilzunehmen. Nie, niemals, never! Das weiß ich doch längst! Ich wünsche es mir nur, das ist es, das steckt dahinter!) Wir trinken eine Tasse Tee zusammen, sie hat aber nicht viel Zeit. Kurz bevor sie gehen will, zitiere ich den (angeblich) ersten Satz meines Buchprojekts: Die Stadt Mandlica hat etwa neunzehntausend Einwohner und liegt an der Südküste Siziliens. Sie wiederholt den Satz, lächelt kurz und sagt:
    – Lass das »etwa« weg. Und nenne stattdessen die exakte Einwohnerzahl. Ist nur ein Vorschlag. Bringt aber viel, glaube ich.

    Paulas kurze Reaktion auf meinen cäsarischen Satz irritiert mich. So reagiert eigentlich nur eine Fachfrau, die
viel von Literatur versteht. Versteht Paula viel von Literatur? Habe ich etwas übersehen? Habe ich mir überhaupt genug Gedanken darüber gemacht, in wen ich mich so abgrundtief (ich liebe dieses Wort, da ist nichts zu machen) verliebt habe? Als sie mein Zimmer wieder verlässt, gerate ich ins Schwitzen. Ich schwitze sonst nicht, selbst nicht bei Temperaturen über vierzig Grad. (Als einziges Familienmitglied bin ich hitzeresistent, ich habe eben lange genug unter schweren Tischen und in engen Kinderzimmern gelebt. So etwas härtet ab.)

    Nur zwei Tage nach Einreichung meines Antrags auf nächtlichen Zutritt zum Kastell trifft bereits die amtliche Genehmigung (samt Schlüssel) bei mir ein. Enrico Bonni hat sie eigenhändig unterschrieben und sogar einen handschriftlichen Kommentar (in sizilianischem Ortsdialekt) hinzugefügt. Ich verstehe seinen Text nicht genau, deshalb bitte ich Alberto um eine Übersetzung. Sie lautet: Brillanten Stilisten in der Nachfolge des großen Cäsar schlägt man nichts ab. Bis bald – Ihr ergebener Enrico Bonni.

14
    I N DER darauf folgenden Nacht betrete ich das Kastell gegen zweiundzwanzig Uhr. Ich schleiche langsam und vorsichtig durch die dunklen Gänge mit den kleinen Aussichtsfenstern, die an das breite Eingangstor
anschließen und den Weg zum weiten Innenhof bahnen. Dort herrscht eine angenehm luftige, deutlich niedrigere Temperatur als unten im Ort. An mehreren Seiten steigen schmale Treppen hinauf zum Umgang, der auf der äußersten Höhe der Mauern von Turm zu Turm führt. Ich lasse mir Zeit und gehe den gesamten Weg ab, ich blicke von den Türmen hinab auf das flache Hochland, das die Hitze des Tages ausdünstet. In der Ferne das schwarze Meer, das in der Nähe des Hafens von einer Unzahl bunter, flackernder Punkte durchschossen wird. Der lang gestreckte Arm der steinernen Mole, die bis zu einem Leuchtturm verläuft, der genau am äußersten Ende der Hafenregion steht! Die hier und da angegrabenen und abgetragenen Hügel ringsum, wie stark verletzte Erdwesen, die auf Heilung durch erneuten Bewuchs warten! Ich stelle mir vor, dass ich mich entweder unten im Innenhof oder hier oben, auf einem der Türme, mit den jungen Frauen des Ortes unterhalte. Ich sitze etwas schräg, abgewandt, wie die Priester der alten Tage im Beichtstuhl gesessen haben, ich leihe ihnen mein Ohr (wie man so schön sagt), und ich warte auf ihr Flüstern:
    – Ich möchte studieren, professore, aber meine Familie ist dagegen. Was kann ich tun, professore …?
    – Ich liebe Marzio, professore, aber meine Familie und Marzio selbst wissen davon noch nichts. Was soll ich tun, professore …?
    – Ich möchte an den Miss Sicilia-Wahlen teilnehmen, professore, aber meine Familie sagt, es komme überhaupt nicht in Frage, dass ich mich wie eine Stripperin im Bikini vor dem halben Ort prostituiere. Was meinen Sie, professore …?

    Als ich kurz nach Mitternacht in die Pension zurückkomme, brennt in der Küche noch Licht. Ich schaue kurz nach, ob sich Paula dort aufhält, aber die Küche ist leer. Ich gehe also langsam hinauf auf mein Zimmer, dusche kurz und lege

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