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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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genug.

    Ich würde mich gerne noch viel länger mit Paula unterhalten. Doch schon bald treffen auch die anderen Gäste zum Frühstück im Innenhof ein. Ein deutsches Ehepaar aus Schleswig-Holstein! (Der Mann beschäftigt sich mit dem Thema Die Vögel Siziliens und bringt den Feldstecher bereits zum Frühstück mit, um die Vögel über dem quadratischen Himmelsloch des Innenhofs beobachten zu können.) Zwei ältere Engländerinnen! (Die eine sieht aus wie ein Mitglied des britischen Königshauses, leider komme ich nicht darauf, wie dieses Mitglied genau heißt, es handelt sich um eine gute Reiterin und Pferdenärrin, die oft etwas verknautscht daher kommt, als habe sie sich nachts genau ein Glas Gin zu viel genehmigt.)

    Ich verabschiede mich also von Paula und frage noch kurz, wann wir den verabredeten Ausflug machen.
    – Sobald Maria wieder da ist, sagt sie.
    – Und bis dahin sehen wir uns nur hier zum Frühstück?
    – Nein, wir sehen uns auch anderswo.
    – Aber wann? Und wo?
    – Lass Dich einfach mal überraschen, Beniamino.

13
    T EMPERATUREN ÜBER vierzig Grad. Der gesamte Ort zieht sich während der Mittagszeit für mehrere Stunden in die Häuser zurück, als wäre oben im Kastell ein tyrannischer Despot eingetroffen, der so etwas befohlen hat. Auch zu den anderen Zeiten hört man kaum noch laute Stimmen, selbst die Ortsrundfahrten der jungen Männer mit ihren Autos haben aufgehört. Stattdessen hört man die Stimmen der Vögel: das helle, kreischende Ziehen der Schwalben, das heisere, trockene Wispern der Stare, die in einigen Haushalten in Käfigen gehalten werden. Ich gehe weiter jeden Mittag zu Mario, habe aber kaum noch Appetit. Selbst ein harmloses Glas Wein bekommt mir nicht mehr. Bei der großen Hitze macht Wein mich derart müde, dass ich den gesamten Tag für die Arbeit abschreiben kann.

    Sonst aber ist diese Hitze genau mein Fall. Ich fühle mich unendlich wohl, sage es aber niemandem. Alle Welt klagt, und ich stelle fest, dass ich mich in meinem bisherigen Leben nie besser gefühlt habe als jetzt, bei über vierzig Grad. In den stillen Mittagsstunden sitze ich in
meinem Arbeitszimmer und komme mit meinen Studien gut voran. Manchmal dringt von unten, aus den Tiefen der Stadt, ein mattes Schnarchen zu mir herauf. Ich verstehe nicht, wie man in dieser durch und durch wohltuenden Wärme so viel schlafen kann. In meinem Fall ist das anders: Die Wärme lässt mich so viel arbeiten wie bisher noch nie in meinem Leben. Ich sitze mit nacktem Oberkörper und einer kurzen Sporthose am Schreibtisch, ich trinke jede Stunde etwas Eistee, ich arbeite stundenlang, ohne erschöpft zu sein. Es ist, als wäre der überhitzte Körper dieser Stadt ein gewaltiger warmer Leib, der mich umschlungen hält. Komm zu mir, Beniamino, sauge Dich voll mit meinen Säften, lass es Dir gut gehen!

    An zwei Tagen hintereinander rufen meine Brüder wieder an. Angeblich haben sie von schweren Waldbränden auf Sizilien gehört, und angeblich nähern sich die Flammen bedrohlich dieser und jener Stadt. Sie sind so nachrichtenfixiert, dass jeder von ihnen unabhängig vom andern immer wieder sagt, dass sich die Flammen bedrohlich nähern. Ich antworte, dass ich davon noch nichts gehört hätte (natürlich habe ich doch davon gehört, aber es ist einfacher, gar nicht erst auf diese Nachrichten einzugehen). Sie fragen, ob ich kein Fernsehen sehe oder kein Radio höre , sie müssen wohl glauben, ich säße fernab der Welt in einer Steinzeithöhle, ohne jeden Anschluss an die biederste technische Zivilisation.
    – Es gibt hier keinen guten Empfang, antworte ich und muss lachen, als sie aus ihrem in dieser Hinsicht doch ideal ausgerüsteten Köln zurück morsen: Meine Herren, Benjamin, meine Herren! Wo bist Du denn bloß gelandet?

    In einer der schönsten Gegenden des Mittelmeeres, würde ich am liebsten antworten und noch ein paar Hymnen dranhängen: Es ist eine ideale Gegend für meine Arbeit, nirgends habe ich mich je so wohlgefühlt, und nirgends bin ich mit so vielen Menschen derart leicht ins Gespräch gekommen. Meine alten Hemmungen sind so gut wie überwunden. Ich bin nicht mehr der kleine Bub, der sich unter den Tischen und in seinem Zimmer verkriecht und ins Stottern gerät, wenn man ihn etwas fragt. Hier in Sizilien wachse ich: Der Verstand ist beweglicher, die Sinne sind angeregter, der Sexus explodiert (auch das könnte, denke ich, durchaus geschehen. Jedenfalls liegt es wie alles, was sich bisher positiv verändert hat,

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