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Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Das Kind, das tötet: Roman (German Edition)

Titel: Das Kind, das tötet: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Lelic
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den Fenstern, die höchstwahrscheinlich zur Küche gehörten, aber dort spiegelte sich nur Schwarz wider und in den oberen Fenstern der Schimmer der aufgehenden Sonne.
    Er kehrte dem Pub den Rücken zu und überquerte die Fußgängerbrücke, auf der seine schweren Winterstiefel bei jedem Schritt ein kleines Erdbeben auslösten. Drüben angekommen, ging er Richtung Süden, genau wie Felicity es getan hatte, aber am Zauntritt hielt er inne. Dahinter wurde der Weg schmaler und machte eine Kurve, so dass er nicht mehr zu sehen war. Obwohl dort dasselbe Gemisch aus Schlamm und Kies lag wie auf dem Boden, auf dem Leo stand, wirkte es, als befände sich auf der anderen Seite ein fremdes Land. Der Zauntritt schien eine Grenze zu sein, ein Übertritt in irgendeine Wildnis. Dabei wusste Leo, wenn er in den vergangenen Wochen etwas gelernt hatte, dann das, dass es solche klaren Abgrenzungen auf dieser Welt nicht gab.
    Mit der Hand, an der er keinen Handschuh trug, hielt er sich an dem Pfosten fest, an derselben Stelle, wo Felicity sich festgehalten haben musste. Er setzte ein Bein darüber, zog das andere nach und sprang auf der anderen Seite hinunter. Dann zog er seinen hochgerutschten Anorak wieder herunter und stapfte weiter, den kalten Wind im Gesicht.
    Er suchte seine Tochter. Sagte er sich. Denn in gewisser Weise war es logisch, gerade hier zu suchen. Er – Ellie – wurde für das bestraft, was Daniel Felicity angetan hatte. War es da nicht logisch, nach Parallelen zu suchen? Anhand von Felicitys Schicksal nach Hinweisen auf das von Ellie zu forschen? Felicity war an diesem Teil des Flusses gefunden worden, nicht weit entfernt von der Stelle, an der Daniel sie eingeholt hatte. Sie war ungefähr um diese Tageszeit ermordet worden, und man hatte ihre Leiche knapp zwei Wochen nach ihrem Verschwinden entdeckt, und auch seit Ellies Verschwinden waren jetzt zwei Wochen vergangen. Bei beiden Mädchen hatte man eine Suchaktion gestartet, die zunächst ins Leere lief. Die Eltern hatten Verleugnung, Zorn, Verzweiflung und Trauer durchlebt. Es war also an der Zeit. Oder etwa nicht? Entsprechend den Regeln, nach denen Ellies Entführer spielte, war das Spiel beendet und Leo der Verlierer. Ellie die Verliererin. Leo wusste das bereits und wusste es doch nicht – deshalb war er jetzt hier und folgte Felicitys Weg, um seine Tochter zu finden.
    Also doch nicht logisch. Nicht im Entferntesten. Doch selbst eine so wackelige Brücke reichte ihm als Verbindung von dem, was Daniel Felicity angetan hatte, zu dem, was man seiner Tochter antat. Und war das nicht letztendlich der Grund, weshalb er hier war? Um seine Schuldgefühle zu besänftigen. Um Zorn an ihre Stelle treten zu lassen. Um Daniel in demselben Licht zu sehen wie den Mann, der seine Tochter entführt hatte, und sein eigenes Versagen zu rechtfertigen, den wahren Kern des Jungen zu erkennen, den er einmal als seinen Schutzbefohlenen betrachtet hatte. Denn wenn es falsch von Leo gewesen war, Mitleid mit ihm zu haben – wenn er akzeptierte, dass es falsch gewesen war –, wie viel leichter könnte er dann akzeptieren, dass das Schicksal, das Daniel erwartete, richtig war?
    Er suchte seine Tochter. Das redete er sich ein. Es war die Wahrheit, weil es immer wahr sein würde, und wenn es eine Chance für ihn gab, sie zu finden, dann war das Logik genug, wackelig hin oder her.
    Er sah nichts. Wie zu erwarten war, war das Flussufer menschenleer. Aber es war gar nicht so abgeschieden, wie Leo gedacht hatte. Selbst so weit vom Stadtzentrum entfernt hörte man zum Beispiel Straßenlärm, leise zwar, aber unausgesetzt. Und auf den Hügeln im Norden waren Gebäude zu sehen: hauptsächlich Studentenwohnheime, gut die Hälfte der Fenster hatten zugezogene Vorhänge. Im Schlamm waren Hundespuren und auch Hufabdrücke. Dieser Weg wurde genutzt, wenn auch in letzter Zeit vielleicht seltener als zuvor.
    An einer Bank blieb Leo stehen. Er setzte sich nicht, sondern las: dass Tom Natasha gefickt hatte, dass Exeter ein »Dreksloch« war und dass der Plymouth FC wie Schwuchteln spielte. Die Bank war eine Art Tafel, obwohl das meiste, was da stand, zumindest für Leo nicht zu entziffern war.
    Er stellte sich Daniel vor, wie er seitlich darauf saß und irgendeinen Kommentar in das beschichtete Holz ritzte. Wobei ein Kommentar in Anbetracht der Geistesverfassung des Jungen eigentlich schon zu viel war. Es gab Rillen – eingeritzte Kerben, bemerkenswert eigentlich nur wegen ihrer Tiefe –, die

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